Ration Book und Bezugsscheine, Großbritannien 1940er Jahre ((c) Kevinsphotos)

Ihr Fach gehört zu den sogenannten kleinen Fächern. Bitte stellen Sie uns Ihr Fach in wenigen Sätzen vor.

Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte befasst sich mit den sozioökonomischen Aspekten der Geschichte. Typische Fragen der Wirtschaftsgeschichte sind beispielsweise die Entwicklung der Hanse oder die Frage, wie es Gesellschaften schafften, in eine Phase anhaltenden Wirtschaftswachstums überzugehen, die die Existenzbedingungen aller sozialer Schichten verbesserten (Industrialisierung). Auch die Ursachen der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre ist einer der großen Klassiker. Thematisch benachbarte Fächer sind die Unternehmensgeschichte, die Technikgeschichte und zunehmend auch die Umweltgeschichte.

Die Sozialgeschichte lässt sich sehr weit fassen und ist thematisch kaum von der Kulturgeschichte zu trennen. Sie beschäftigt sich allerdings stärker mit den materiellen Lebensbedingungen der Menschen, fragt also zum Beispiel nach der Entwicklung des Lebensstandards, sozialer Ungleichheit usw. Wirtschafts- und Sozialgeschichte lassen sich vielfach kaum trennen.

Welche Rahmenbedingungen an Ihrem Fachstandort wirken sich wesentlich auf Ihre Lehr- und Forschungspraxis aus? Wie beurteilen Sie diese?

Das Fach ist teils bei historischen Instituten angesiedelt und teils bei den Wirtschaftswissenschaften und unterliegt deren - sehr unterschiedlichen - Vorstellungen wissenschaftlicher Qualität. Während bei den Historikern Monographien erwartet werden, zählen bei den Ökonomen ausschließlich Artikel in englischsprachigen ökonomischen Fachzeitschriften. An beide peer groups anschlussfähig zu bleiben, erfordert eine erhebliche Anpassungsleistung, für die zumeist die Ausbildung fehlt. Daher verstehen sich viele Fachvertreter:innen entweder als Historiker oder als Ökonomen.

Was spricht Ihres Erachtens dafür oder dagegen, dass Ihr Fach in der Öffentlichkeit und innerhalb des deutschen Hochschulsystems angemessen wahrgenommen wird?

In der Öffentlichkeit ist unser Fach durchaus präsent, weil wir immer wieder von Medienvertretern auf das Thema "Wirtschaftskrise" angesprochen werden, aktuell auch auf "Inflation". Hier liegt offensichtlich der Bedarf vor, aktuelle Probleme (und Befürchtungen) mit historischen Erfahrungen zu vergleichen. Aus Sicht der Medien haben wir da interessanterweise oft mehr zu bieten als die Wirtschaftswissenschaften. Im Hochschulsystem hingegen, und das ist für den langfristigen Erhalt des Fachs natürlich wichtiger, ist unsere Lage prekär. Sowohl bei den Historikern als auch bei den Ökonomen gelten wir als Luxusfach, das nicht zum harten Kern gehört. Bei knapper werdenden Ressourcen streicht man einen Lehrstuhl aus unserem Fach eher als einen aus der Neueren und Neusten Geschichte oder der Makroökonomik.

Haben Sie den Eindruck, dass die Vernetzung mit anderen Fächern einen Mehrwert für Ihr Fach bedeutet? Welche Kooperationsformen sind in diesem Zusammenhang für Sie interessant und mit Blick auf Ihren Fachgegenstand besonders geeignet?

Als klassisches Brückenfach sind für uns Kooperationen mit den benachbarten Fächern ganz normal, zumal die Übergänge fließend sind. Es gibt ja durchaus Historiker, Soziologen und Ökonomen, die sich für wirtschafts- oder sozialhistorische Zusammenhänge interessieren.

Welche Bedeutung haben außeruniversitäre (Forschungs-)Institute für Ihr Fach?

Keine. Das Fach ist mit einigen Ausnahmen aus der Unternehmensgeschichte ausschließlich in Universitäten verankert.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Faches? Welche Entwicklungen und Herausforderungen zeichnen sich für Sie ab? Was wäre Ihres Erachtens für eine positive Entwicklung Ihres Fachs hilfreich?

Seitdem ich in diesem Fach aktiv bin, kenne ich nur Diskussionen über die Krise des Fachs. Es hatte in Zusammenhang mit dem Aufstieg der Historischen Sozialwissenschaften à la Wehler und Kocka in den 1970er Jahren einen gewaltigen Boom erlebt. Der cultural turn auf der einen Seite und die zunehmende Formalisierung und Ökonometrisierung auf der anderen Seite stellt das Fach jedoch immer wieder vor Herausforderungen. Es wird interessant sein zu sehen, ob die interessanten Möglichkeiten der digital history, die z.B. die massenhafte Analyse von riesigen Textkorpora ermöglicht, die Historiographie stärker für quantitative Verfahren öffnet und dies auch in der Lehre systematischer verankert wird, als dies jetzt der Fall ist.

((c) Universität Regensburg)

Mark Spoerer hat seit dem Jahr 2011 den Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Regensburg inne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die öffentlichen Finanzen des 19. und 20. Jahrhunderts, Unternehmensgeschichte sowie Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg. Professor Spoerer fungiert als Vorsitzender der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (GSWG) und als verantwortlicher Herausgeber der Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (VSWG). Weitere Informationen