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Ihr Fach gehört zu den sogenannten kleinen Fächern. Bitte stellen Sie uns Ihr Fach in wenigen Sätzen vor.

Das mache ich gerne, wobei ich vorweg kurz etwas zu dem Status als kleines Fach sagen möchte. Aus Sicht der Digital Humanities-Community ist es nämlich gar nicht so einfach zu entscheiden, ob die Digital Humanities überhaupt ein Fach sind bzw. sein sollten. Die Diskussion darüber ist recht umfangreich, betrifft aber im Kern die Frage, ob es sich bei den Digital Humanities um ein eigenes Fach (oder auch mehrere Fächer) oder um eine Sammlung von Methoden und Verfahren handelt. Mein Eindruck ist, dass die Einschätzung des Status auch vom jeweiligen Kontext abhängt. An Ihrer Forschung an der Arbeitsstelle kleine Fächer sieht man jedenfalls, dass die Digital Humanities die Kriterien für ein Fach zumindest zu großen Teilen erfüllen.

Jetzt aber zur Vorstellung: Die Digital Humanities nutzen digitale Methoden zur Erschließung und Erforschung von analogen und digitalen Artefakten, also etwa von Texten, Bildern oder Gegenständen. Das heißt, dass die Digital Humanities ein geisteswissenschaftlicher Bereich sind, in dem der Einsatz von Computern in der Aufbereitung oder Analyse der geisteswissenschaftlichen Forschungsgegenstände zentral ist. Dabei ist das Forschungsgebiet nahezu so alt wie Computer. Bereits in den 1940er Jahren hatte der Jesuitenpater Roberto Busa die Idee, einen Index über die Werke Thomas von Aquins computergestützt zu erstellen. Dank der Unterstützung durch IBM und einem Team von über 60 Leuten, zu einem großen Teil Frauen, die die Erstellung der Lochkarten für den Index erledigt haben, konnte das Großprojekt Jahrzehnte später fertiggestellt werden. Es gilt vielen als Ursprung der Digital Humanities und es ist ein Beispiel dafür, dass computergestützt Dinge möglich werden, die ohne Computer nicht denkbar oder nicht sinnvoll sind. Im Falle des Index Thomisticus von Padre Busa ist es die Nachnutzbarkeit des Index, der als enormer Datenschatz eine unvergleichlich wertvolle Quelle für Forschende ist, die das Projekt auszeichnet. Auch wenn die meisten Forschungsprojekte heutzutage deutlich schneller umgesetzt werden können, ist die Idee der Erzeugung von Daten zu Forschungsgegenständen für die weitere Forschung meist zentral in den Projektzielen verankert. Ähnlich ist es mit den Beteiligten: In einem typischen Digital Humanities-Projekt sind meist eine Reihe von Forschenden beteiligt. Entsprechend sind Nachhaltigkeit und Kollaboration weiterhin wesentliche Prinzipien für die Digital Humanities, die vor allem dann interessante Ergebnisse bringen, wenn mehrere Forschende und zum Teil auch verschiedene Institutionen zusammenarbeiten.

Welche Rahmenbedingungen an Ihrem Fachstandort wirken sich wesentlich auf Ihre Lehr- und Forschungspraxis aus? Wie beurteilen Sie diese?

An der Technischen Universität Darmstadt sind die Bedingungen für meine Forschung und Lehre außergewöhnlich gut. Das Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft, dem ich angehöre, ist zwar vergleichsweise klein, wenn man sich Germanistik-Institute an anderen Universitäten anschaut. Trotzdem haben wir einen außergewöhnlich hohen Anteil an Fachgebieten bzw. Professuren, die in dem Bereich Digital Humanities angesiedelt sind. Konkret sind es fünf von acht Fachgebieten bzw. vier von sieben Professuren, die digital ausgerichtet sind. Das ist im nationalen Vergleich - und darüber hinaus - einigermaßen ungewöhnlich und es ist besonders ungewöhnlich, dass wir gleich zwei Professuren für neuere deutsche Literaturwissenschaft mit einem dezidierten Digital Humanities-Fokus haben.

Dieser vergleichsweise hohe Anteil an Digital Humanities an meinem Institut ist der Weitsicht der TU Darmstadt zu verdanken, die die Digital Humanities früh als fördernswerten Bereich erkannt hat. Meine Kolleginnen und Kollegen am Institut haben schon lange vor der Zeit, in der die Digital Humanities auch in Deutschland bekannter wurden, den Bereich konsequent und erfolgreich weiterentwickelt. Das sieht man u.a. daran, dass wir sowohl den ältesten MA-Studiengang in dem Bereich (den Master of Literary and Linguistic Computing) als auch den ältesten BA-Studiengang (den Bachelor of Digital Philology) in Deutschland anbieten, aber auch an der gerade eingerichteten Brückenprofessur für Humanities Data Science and Methodology. Durch letztere sind die digital arbeitenden Sozial- Geisteswissenschaften an der TU Darmstadt jetzt auch gewissermaßen ganz offiziell miteinander verbunden. Außerdem kooperieren meine Kolleg:innen und ich regelmäßig mit weiteren Fachbereichen wie der Informatik, der Mathematik oder der Kognitionswissenschaft sowie der Universitäts- und Landesbibliothek, die stark im Bereich von Open Access und Open Data aktiv ist.

In meinem Lehr- und Forschungsalltag bedeutet dieses Umfeld, dass digitales Forschen der Normalfall und nicht die Ausnahme ist. Oft ist es umgekehrt und dann bedarf es im Austausch mit Kolleg:innen manchmal umfangreicher Diskussionen, um ein gemeinsames Verständnis über die Zugänge der Digital Humanities und deren Relevanz herzustellen. Das kann in einen durchaus produktiven Austausch münden - tut es aber nicht immer. Bei uns in Darmstadt finden solche Grundsatz-Diskussionen hingegen nur sehr selten statt und entsprechend können wir uns im Forschungs- und Lehralltag noch stärker auf unsere Spezialisierungen konzentrieren und das digitale Umfeld für die Reflexion nutzen. Ich denke, davon profitieren auch unsere Studierenden sehr.

Was spricht Ihres Erachtens dafür oder dagegen, dass Ihr Fach in der Öffentlichkeit und innerhalb des deutschen Hochschulsystems angemessen wahrgenommen wird?

Im Falle der Digital Humanities ist mein Eindruck, dass sie durchaus im akademischen Umfeld und auch in der breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Dies liegt vermutlich - auch - daran, dass die Digitalisierung inzwischen sowohl in der Forschung als auch in der Gesellschaft einen zentralen Stellenwert erreicht hat und entsprechend digitale Themen für viele interessant sind. Die Bedeutung der Digital Humanities zu vermitteln, ist der Community in den letzten Jahren recht gut gelungen, glaube ich. Gleichzeitig kann es eine Herausforderung sein, leicht verständlich über die Digital Humanities zu sprechen und in den Austausch zu kommen. Das ist natürlich nicht Digital Humanities-spezifisch, sondern in jedem Fach und Forschungsbereich so: Ein Fach wird nun mal wesentlich durch seine spezifischen und einigermaßen komplexen Fragestellungen, Gegenstände und Methoden ausgemacht und entsprechend ist die Beschreibung des Fachs eine Herausforderung. Bei den Digital Humanities geht es Fachfremden an Hochschulen und der Öffentlichkeit oft genauso, wie den eben angesprochenen Kolleg:innen an geisteswissenschaftlichen Instituten, an denen eine neue Kollegin oder ein neuer Kollege aus den Digital Humanities beginnt: Sie fragen sich, was das ist und wie überhaupt Geisteswissenschaft und Informatik zusammengehen können.

Dass digitale Zugänge in den Sozial- und Geisteswissenschaften trotzdem eine gewisse Akzeptanz erreicht haben, sehen wir an verschiedenen Ausschreibungen von Förderinstitutionen wie dem BMBF oder der VolkswagenStiftung, die mehr oder weniger explizit auf Digital Humanities abzielen oder diese zumindest deutlich mit adressieren. Damit hat der Bereich eine sichtbare Bedeutung in der Forschungslandschaft. Aktivitäten wie die etwa seit drei Jahren laufenden DFG-Schwerpunktprogramme "Das digitale Bild" und "Computational Literary Studies" zeigen zudem, dass die Digital Humanities eine gewisse Konsolidierung erreicht haben und nun intensiver in bestimmten Bereichen vorangetrieben werden.

Ich denke außerdem, dass in den kommenden Jahren vermehrt Stimmen aus der Digital Humanities-Community zu Fragen der Digitalisierung, aber auch der künstlichen Intelligenz und deren Bedeutung für uns als Gesellschaft zu hören sein werden und auch gehört werden sollten. Die Einordnung der Entwicklungen für unsere Kultur ist auch eine originär geisteswissenschaftliche Aufgabe und steht in diesem Sinne im Kern der Digital Humanities-Forschung und -Lehre.

Haben Sie den Eindruck, dass die Vernetzung mit anderen Fächern einen Mehrwert für Ihr Fach bedeutet? Welche Kooperationsformen sind in diesem Zusammenhang für Sie interessant und mit Blick auf Ihren Fachgegenstand besonders geeignet?

Die Vernetzung mit anderen Fächern war für die Entstehung der Digital Humanities ausschlaggebend und ist weiterhin sehr wichtig. Wobei ich vermute, dass das für alle kleinen Fächer ähnlich der Fall ist, da diese oft aus interdisziplinären Zugängen entstehen. In meiner eigenen Wahrnehmung der Digital Humanities lassen sich mindestens zwei Phasen der Interdisziplinarität ausmachen, zumindest in den Entwicklungen der letzten etwa 15 Jahre. Seitdem sind die Digital Humanities - anfangs teilweise noch unter der Bezeichnung Humanities Computing - in Deutschland und international noch einmal deutlich angewachsen.

Zu Beginn wurde an vielen Stellen von Geisteswissenschaften und Informatik gesprochen. So etwa auf der ersten Jahrestagung des Verbands für Digital Humanities im deutschsprachigen Raum, wo unter dem Tagungsthema "Digital Humanities - methodischer Brückenschlag oder "feindliche Übernahme"? Chancen und Risiken der Begegnung zwischen Geisteswissenschaften und Informatik" das Verhältnis zwischen den beiden Bereichen zum Teil auch kontrovers diskutiert wurde. Inzwischen sind wir in einer Phase, in dem dieses Verhältnis eine gewisse Normalität erreicht hat, zumindest im Kontext der Digital Humanities. Entsprechend ist jetzt der Fokus auf andere geisteswissenschaftliche Fächer oder die Sozialwissenschaften, aber auch auf Fächer wie die Psychologie, die Mathematik oder die Biologie stärker. Dabei geht es viel darum, mit diesen anderen Fächern über theoretische Zugänge oder Verfahren in den Austausch zu kommen, um so den geisteswissenschaftlichen Forschungsgegenstand besser oder noch vielfältiger in den Blick zu nehmen. Dann fließen etwa Theorien zu kultureller Evolution, Kategorientheorie oder Theorien über menschliche Gefühle in die Analyse von historischen Entwicklungen, die Nutzung von Analysebegriffen oder die Untersuchung von Textrezeption ein.

Neben dieser Entwicklung von einem eher binären Informatik-und-Geisteswissenschaft hin zu einem multidisziplinären Selbstverständnis hat sich auch die Wahrnehmung der Entwicklung von Software oder Infrastrukturen verändert. Die Arbeit daran wird immer mehr als Forschungsarbeit anerkannt und auch dadurch ändern sich die Kooperationsformen und die Rollenverteilungen in Digital Humanities-Projekten.

Welche Bedeutung haben außeruniversitäre (Forschungs-)Institute für Ihr Fach?

Da die Digital Humanities im Prinzip die ganze Bandbreite geisteswissenschaftlicher Forschung abdecken und zudem oft interdisziplinär ausgerichtet sind, haben außeruniversitäre Institute natürlich potentiell eine große Bedeutung für unsere Forschung. Dabei sind es in meiner Wahrnehmung vor allem Akademien der Wissenschaft oder Archive, die über Artefakte oder Expertisen verfügen, die eine Zusammenarbeit interessant machen. Denn hier gibt es die Möglichkeit von Kooperationen für Langzeitvorhaben mit der entsprechenden Aufbereitung und Zurverfügungstellung von Daten. In diesem Bereich passiert viel, aber es ist auch noch viel zu tun, denn die digitale Erschließung von Kulturgütern bringt eine ganze Reihe von teilweise auch völlig neuen Herausforderungen mit sich.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Faches? Welche Entwicklungen und Herausforderungen zeichnen sich für Sie ab? Was wäre Ihres Erachtens für eine positive Entwicklung Ihres Fachs hilfreich?

Die Zukunft der Digital Humanities sehe ich sehr optimistisch, wobei auch hier die Antwort auf die Frage von der eingangs erwähnten Einschätzung des Status der Digital Humanities als Fach oder als Methodenrepertoire bzw. Forschungsparadigma abhängt. In Bezug auf die digitalen Methoden gehe ich davon aus, dass diese sich stark weiterentwickeln werden und eine Auswahl daraus kontinuierlich in das Methodenrepertoire der etablierten, nicht-digitalen geisteswissenschaftlichen Fächer eingehen wird. Es wird also selbstverständlicher werden, computergestützt zu forschen, indem man etwa Daten oder Tools, die die eigene Forschungscommunity entwickelt hat, nutzt. Bei der Frage nach dem Fach sehe ich eine Entwicklung hin zu einer weiteren Ausdifferenzierung. Inzwischen haben sind Felder wie die Digital History, Computational Literary Studies, digitale Kunstgeschichte, digitale Archäologie, digitale Musikwissenschaft und andere entstanden. Es werden Professuren mit entsprechenden Denominationen besetzt und Studiengänge oder Schwerpunkte dazu entwickelt und angeboten. Hier wird es spannend sein zu sehen, wie diese spezifischeren Fächer weiterhin unter dem Dach der Digital Humanities zusammenwirken und wie sich der Austausch mit den anderen geisteswissenschaftlichen Fächern gestaltet. Die Herausforderung wird es sein, genau darüber im Austausch zu bleiben. Wobei ich diesbezüglich zuversichtlich bin, denn die Digital Humanities-Community ist von einer großen Lust am Austausch und der Reflexion geprägt. Beide Entwicklungsrichtungen haben für die Lehre und auch für die Ausbildung von Lehrkräften eine große Bedeutung. Ich halte es für enorm wichtig, dass die Inhalte der geistes- und sozialwissenschaftlichen Lehramts-Studienfächer kontinuierlich mit Digital Humanities-Inhalten ergänzt werden. Damit können wir erreichen, dass bereits in der Schule ein geisteswissenschaftlich- und damit Verstehens-orientierter Zugang zu und Umgang mit Daten vermittelt wird. Eine so hergestellte Data Literacy ist für eine funktionierende und soziale Gesellschaft ein wichtiger Gegenpart zur Erzeugung und Nutzung von Daten durch Firmen oder auch Institutionen. Diese zentrale Aufgabe der Digital Humanities gilt es zu fördern und da sind wir Forschenden und Lehrenden auch im Sinne der Third Mission der Universität, also des Beitrags zur gesellschaftlichen Verantwortung, gefragt.

((c) Privat)

Evelyn Gius lehrt seit 2019 als Professorin für Digital Philology - Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen korpusbasierte digitale Literaturwissenschaft, manuelle und automatische Annotation literarischer Texte sowie Narratologie. Prof. Dr. Gius wirkt als Herausgeberin des Journal of Computational Literary Studies und fungiert zudem als erste Vorsitzende des Verbands Digital Humanities im deutschsprachigen Raum. Weitere Informationen