Aufnahme aus dem Setesdal, ca. 150 km nördlich von Kristiansand. Ganz in der Nähe befindet sich ein Runenstein, der sog. Skutestein beim Storhedderfjell (Bykleheia). (Michael Schulte Juli 2019)

Die Nordistik gehört zu den sogenannten "Kleinen Fächern". Wie stellt sich die Situation für Ihr Fach in Norwegen bzw. im skandinavischen Raum dar?

Wichtig ist zunächst die Feststellung, dass die Nordistik in Skandinavien und besonders in Norwegen an sich kein "Kleines Fach" ist: Sie zielt auf das Studium der Muttersprache und deckt das Lehramt ("lærerutdanning") und den wichtigen Fachbereich "Norwegisch als Fremdsprache" ab. Insofern erfüllt das Fach "Norsk/Nordisk" in Skandinavien eine vergleichbare Aufgabe wie das Großfach der Germanistik (einschließlich DaF = Deutsch als Fremdsprache) in Deutschland und anderen deutschsprachigen Ländern. Kurzum, die Nordistik in Norwegen zielt auf die Forschung und Lehre zur landeseigenen Sprache und Kultur.

Damit kann die Nordistik in Norwegen auch nicht als gefährdetes Fach gelten. Das Institut an der Universität in Agder, an dem ich arbeite, "Institutt for nordisk og mediefag", verbindet die Nordistik mit den Medienfächern. Zur Zeit umfaßt unser Institut 55 Mitarbeiter*innen einschließlich der Stipendiat*innen und Post-Doktorstipendiat*innen, die aus ganz verschiedenen Ländern und Kontinenten und natürlich auch aus Deutschland kommen. Insgesamt 43 Mitarbeiter*innen haben feste Anstellungen. Dieser Zusammenschluss der Nordistik mit der Medienforschung manifestiert sich in verschiedenen Bereichen, nicht zuletzt in den Forschungsbereichen Sozialsemiotik, Multimodalität und in der Filmwissenschaft.

Aus meiner Sicht kann die Nordistik weder in Deutschland noch in Skandinavien als homogenes Fach angesehen werden, da sie von ganz unterschiedlichen Nachbarfächern umstellt ist, mit denen sie zusammenarbeitet und zentrale Forschungsperspektiven teilt (zum Beispiel die oben genannten Medienwissenschaften und die Philologie). Wenn man andere Standorte in Norwegen vergleicht, zeigen sich verschiedene Anrainerschaften mit möglichen Nachbardisziplinen. So weist die Hochschule in Volda, an der ich von 2006 bis 2012 tätig war, eine dreifache Fächerkombination des Spracheninstituts auf: eine Sektion für Englisch, eine für Norwegisch (norwegisches Lehramt) und eine Ivar Aasen-Sektion für Sprache, Literatur und Kultur. Dazu muss ergänzt werden, dass Ørsta/Volda in Westnorwegen die Hochburg der zweiten norwegischen Schriftsprache, des Neunorwegischen (Nynorsk) ist, und dass das frühere "Ivar Aasen-institutt" als ehemals selbständiges Forschungszentrum für Schriftkultur im Jahr 2016 in dieses Spracheninstitut integriert wurde. Aus historischen Gründen wird die norwegische Schriftkultur als Kultur des "Nynorsk", der zweiten norwegischen Schriftsprache verstanden, die hier in der Heimat ihres Gründers, Ivar Aasen, blüht. Wiederum anders stellt sich die Situation des Faches an der Universität in Bergen dar, wo die altnordische Philologie ("Norrøn filologi") als Anrainerdisziplin der Nordistik besteht. Dies zeigt, dass die Nordistik in Norwegen keineswegs als homogenes Fach angesehen werden kann. Schon bei der Gewichtung der beiden norwegischen Schriftsprachen, dem "Bokmål" und dem "Nynorsk" zeigen sich gravierende Unterschiede an den Lehr- und Forschungsinstitutionen der einzelnen Universitäten und Hochschulen, teils aus politischen und historischen Gründen.

Gibt es an den Hochschulen und in der Hochschulpolitik in Norwegen ein Bewusstsein für "kleine Fächer"?

Kurz gesagt, ja. Die Minoritätsperspektive zeigt sich beispielsweise im Verhältnis von Norwegisch (als nordgermanischer Sprache) und Samisch als dritter offizieller Schriftsprache neben Bokmål und Nynorsk. Die Aufwertung des Samischen in Norwegen, das in der Geschichte lange Zeit unterdrückt wurde, ist heute auch politisch verankert. Besonders im Lehramtsstudium wird viel Wert darauf gelegt, die Stellung des Samischen als dritter offizieller Sprache Norwegens (neben den beiden offiziellen Schriftsprachen Bokmål und Nynorsk) aufzuwerten.

Aber zu den Kleinen Fächern gehören eben auch einzelne historische Anrainerdisziplinen der Nordistik, die in mein Forschungsfeld passen: die altnordische Philologie, die an der Universität in Bergen als eigenes Fach vertreten ist, die (ältere) Sprachgeschichte und nicht zuletzt die Runologie, die schwankend an die Archäologie und an die sprachlichen Fächer angeknüpft wird. Dieser unklare Status der Runologie als Disziplin zeigt sich nicht zuletzt beim Fund neuer Runeninschriften in Norwegen, wobei nicht immer klar ist, welche Institution die einzelnen Deutungsschritte ausführen soll. Als Kleine Fächer in Norwegen sollten aber auch die Altphilologie, die Orientalistik und die Indogermanistik zur Sprache kommen, zumal sie in Norwegen den Status von "Orchideenfächern" einnehmen.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Faches? Welche Entwicklungen und Herausforderungen zeichnen sich für Sie ab? Was wäre Ihres Erachtens für eine positive Entwicklung Ihres Fachs hilfreich?

Aus norwegischer Perspektive denke ich, dass die Einwanderung, also die Immigrations-thematik, auch unser Fach immer deutlicher bestimmt. Dies zeigt sich im Forschungsbereich des Zweitsprachenerwerbs ("Norsk som andrespråk"), der Mehrsprachigkeitsforschung und im Großbereich der Sprachkontaktforschung. Der Zweit- und Drittsprachenerwerb mit Bezug auf die nordischen Sprachen ist ein expandierendes Forschungsfeld in Norwegen, das natürlich auch für das Lehramt äußerst relevant ist. Hier ergeben sich zahlreiche Berührungspunkte zwischen DaF in Deutschland und "Norsk som fremmedspråk" in Norwegen.

Ich selbst befinde mich so gesehen in der Tat in einer Nische, da ich die Altnordistisk und die Runologie vertrete, also Fachtraditionen der Linguistik und Philologie älterer Sprachepochen. Hier kann und muss auch in Norwegen von Kleinen Fächern gesprochen werden. Die Überlebenstüchtigkeit meiner Stelle hängt denn auch von meiner Produktivität und meinem wissenschaftlichen "Outreach" ab, um diesen Terminus zu gebrauchen. Darüber hinaus kann auch die Mitarbeit in großen internationalen Projekten und das Einwerben von Drittmitteln dem Schwund der Fächer (oder Fachbereiche) Altnordistik und Runologie sehr effektiv entgegenwirken. In meinem Fall ist es die Zusammenarbeit mit internationalen Kollegen, die aktive Teilnahme an internationalen Konferenzen und die relativ konstante Forschungsproduktion, die meine Professur und meine Forschungszeit sichern.

Welche Perspektive bietet Norwegen für den wissenschaftlichen Nachwuchs aus Deutschland und umgekehrt?

Norwegen ist ohne Zweifel ein attraktives Land für deutsche (und deutschsprachige) Nachwuchsakademiker*innen. Es ist auffällig, dass zahlreiche deutsche Akademiker*innen mit einer Promotion im Fach Nordistik/Skandinavistik von einer deutschen Universität in Norwegen Fuß fassen können oder so wie ich in den letzten Jahrzehnten Fuß gefasst haben. Dies gilt gleichermaßen für das Fach Nordistik mit sprachwissenschaftlichem oder literaturwissenschaftlichem Schwerpunkt. Mehrere Kolleg*innen aus Deutschland und der Schweiz mit einer Promotion arbeiten zum Beispiel am nordischen Institut der Universität in Bergen, Stavanger und an meiner eigenen Universität in Agder.

Für deutsche Nachwuchswissenschaftler*innen im Bereich der Nordistik sind Stellenausschreibungen in Skandinavien äußerst relevant, da Forscher*innen in dieser Phase oftmals mobil sind und den großen Sprung ins Ausland schaffen. Verschiedene Fora informieren über derartige Ausschreibungen (siehe zum Beispiel Skantysk: skantysk-request@lists.hu-berlin.de und UPP-NOS: uppnos@nordiska.uu.se). Überaus wichtig ist die Arbeit des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, der Lektorinnen und Lektoren in die Welt (also auch nach Skandinavien) aussendet. Selbst bin ich im Jahr 1998 als DAAD-Lektor an die Deutsche Abteilung der damaligen Hochschule in Agder gekommen, womit meine Karriere in Norwegen vor knall 25 Jahren anfing. Ich erinnere mich noch heute daran, wie ich im Sommer 1997, nach abgeschlossener Promotion, eine Ausschreibung des DAAD in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung entdeckte: "Lektoren gesucht ..." Das war damals mein Sprungbrett.

Michael Schulte (Pressebild UiA)

Michael Schulte hat seit 2012 eine Professur für nordische Sprachwissenschaft an der Universität in Agder in Kristiansand inne. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der älteren Sprachgeschichte, der Historischen Graphematik (Schriftlinguistik) und der Runologie. Er ist Adjunktprofessor an der Universität Islands (Reykjavík) und an der Heliopolis Universität in Kairo. Michael Schulte promovierte 1997 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm Universität zu Bonn mit einer Arbeit zur älteren nordischen Sprachgeschichte. Sein norwegischer Lebenslauf begann als DAAD-Lektor an der damaligen Hochschule von Kristiansand. Im Jahr 2014 empfing er "Fridtjof Nansens belønning for fremragende forskning" an der Akademie der Wissenschaften in Oslo. Prof. Schulte ist außerdem im Vorstand der Agder Vitenskapsakademi und Mitglied in weiteren Wissenschaftsakademien. Er ist langjähriges Mitglied im Editorial Board verschiedener Zeitschriften: NOWELE: North-Western European Language Evolution, Íslenzkt mál und Maal og Minne. Weitere Informationen