Internationale und digitale Vernetzung in der Lehre (Quelle: alisa_rut / stock.adobe.com)

Gemeinsam mit Kolleg*innen an den Universitäten Innsbruck und Zürich hat die Universität Freiburg kürzlich das Projekt "The 'School of Medieval and Neo-Latin Studies': A modular, interdisciplinary, international and digital approach to teaching post-antique Latin" bei der VolkswagenStiftung Hannover eingeworben, welches zum 1. Januar 2022 startet. Im Rahmen des siebenjährigen Projekts wollen die drei Universitäten über Ländergrenzen hinweg einen gemeinsamen Masterstudiengang zur nachantiken Latinität entwickeln.

Lieber Herr Professor Tilg, würden Sie Ihr geplantes Projekt bitte grob skizzieren?

Unser Ziel ist es, die Fächer Mittel- und Neulatein durch die Bündelung von Kompetenzen, digitale Formate und ein flexibles Lehrangebot auf breiterer Basis zu vermitteln, als das bisher möglich war. Der Masterstudiengang, den wir in den nächsten Jahren aufbauen werden, bildet dabei unser komplettes Angebot ab. Unter dem Stichwort "flexibel" werden wir aber auch niedrigschwelligere Angebote wie Zertifikate, summer schools und natürlich einzelne Lehrveranstaltungen als Lehrexport anbieten. Das Stichwort "digital" betrifft zum einen digitale Lehrformate, die in einem didaktischen Konzept von blended learning Präsenzformate ergänzen; zum anderen werden wir Inhalte und Methoden der Digital Humanities vermitteln, um unsere Studierenden in dieser Hinsicht besser für die Zukunft zu wappnen. Die erwähnte Bündelung von Kompetenzen wiederum wird durch die digitalen Formate erleichtert, etwa durch Kooperation auf der Ebene des "team-teaching". In unserem auf drei Standorte verteilten Lehrverbund können wir so unsere jeweilige Expertise einbringen und die Studierenden auf einzigartige Weise betreuen.

Auf welche Desiderate reagieren Sie mit dem Projekt und vor allem dem geplanten trinationalen Studiengang?

Wir denken, dass an unserem Gegenstand, der mittel- und neulateinischen Literatur und Kultur, ein beträchtliches Interesse besteht. Mittel- und Neulatein sind in hohem Maß anschlussfähige, interdisziplinäre Fächer. Sie können und sollten unserer Ansicht nach mit allen Disziplinen in Dialog treten, die sich mit dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit beschäftigen - ein Großteil der in diesen Epochen entstandenen Texte wurde ja auf Latein verfasst. Wie es im Fall der 'Kleinen Fächer' öfter vorkommt, ist unser Fach zwar klein, sein Gegenstand aber riesig. Allerdings wird der Zugang zu diesem Gegenstand durch die eher marginale akademische Verankerung von Mittel- und Neulatein an nur wenigen Standorten erschwert. Außerdem ist die Absolvierung eines kompletten Studiengangs nicht für alle an unseren Fächern Interessierten realistisch. Schließlich besteht in allen philologischen Fächern zunehmend das Bedürfnis, sich mit den Inhalten und Methoden der Digital Humanities auseinanderzusetzen. Wir hoffen, mit der breiten, modularen und digitalen Ausrichtung unserer "School" auf all diese Desiderate die richtige Antwort zu finden.

Wie beurteilen Sie die Situation des Faches "Mittellatein und Neulatein" in Deutschland, Österreich und der Schweiz?

Die Arbeitsstelle Kleine Fächer kartiert in Deutschland zurzeit 11,5 Professuren und 13 Standorte, mit leicht rückläufiger Tendenz. Regional stellt sich die Situation recht unterschiedlich dar - in Baden-Württemberg ist nach der Schließung der Standorte Heidelberg und Tübingen nur noch Freiburg übrig geblieben. Mit unserer "School" wollen wir diesen Standort auch dauerhaft sichern. Proportional zu den Bevölkerungsgrößen ist unser Fach in Österreich und der Schweiz etwas stärker vertreten, was mit einer etwas größeren Bedeutung im gymnasialen Unterricht korreliert. In Österreich gibt es drei dezidiert Mittel- oder Neulatein gewidmete Professuren (in Innsbruck und Wien), wobei die Fächer in der Lehre dank einer besonderen Situation an den Schulen auch sonst sichtbar vertreten sind. In dem zentralen, seit ca. zwei Jahrzehnten geltenden gymnasialen Lehrplan ist nämlich die Behandlung mittel- und neulateinischer Themen im Schulunterricht obligatorisch vorgeschrieben. Auch bei den Matura-Klausuren befinden sich zu gleichen Teilen klassische, mittel- und neulateinische Texte im Pool. Dies führte zu einer stärkeren Akzeptanz mittel- und neulateinischer Lehrveranstaltungen bei Latein-Studierenden (die ja großteils das Lehramt anstreben), aber auch zu einer verstärkten Nachfrage nach Fortbildungsprogrammen für bereits im Schuldienst stehenden Kolleginnen und Kollegen. In der Schweiz gibt es zwei ausgewiesene Professuren, in Genf und Zürich. An diesen beiden Universitäten werden einzelne, vor allem einführende Module, von anderen Fächern gerne crossgelistet. Ob nachantike Texte im gymnasialen Unterricht behandelt werden, hängt von den einzelnen Lehrenden ab, dies wird aber häufig und gern gemacht. In den Kantonen Zürich und St. Gallen gibt es alljährlich Übersetzungswettbewerbe für Gymnasiast*innen, in denen nachantike Texte im Mittelpunkt stehen. Die stärkere Anbindung in den Schulen in Österreich und der Schweiz über den bestehenden Lateinunterricht ist etwas, was auch der deutschen Mittel- und Neulatinistik zugutekommen würde. Auch darauf werden wir hinarbeiten. Insgesamt lässt sich für alle Länder sagen, dass das Fach an den meisten Standorten über wenig Personal verfügt und nur wenige Studierende hat, was im Einzelfall nicht problematisch sein muss, der Bedeutung des Gegenstands und dem potenziellen Interesse an ihm aber nicht gerecht wird - ein Schicksal, das Mittel- und Neulatein wohl mit vielen anderen Kleinen Fächern teilt.

Welche Chancen bieten aus Ihrer Sicht digitale Lehrformate für kleine Fächer wie "Mittellatein und Neulatein"?

Drei Punkte sind hier wichtig. Erstens bieten digitale Lehrformate zunächst einmal die Chance, Interessierte zu erreichen, die wir sonst nicht erreichen könnten. Zweitens können wir uns als Lehrende untereinander leichter vernetzen, um unsere Kompetenzen zu bündeln und ein umfassendes Angebot zu machen. Drittens können sich auf diese Weise auch Studierende aus verschiedenen Orten kennenlernen und zusammen studieren. In der Didaktik spricht man manchmal von "communities of learning", von "Lerngemeinschaften", die durch diverse Vernetzungen ihre Ziele leichter, besser und letztlich auch angenehmer erreichen können als das bei einzelnen Lernenden der Fall wäre. Gerade in Fächern, in denen vor Ort sehr wenige Studierende zu erwarten sind, können digitale Lehrformate beim Aufbau solcher "communities of learning" eine entscheidende Rolle spielen. Dafür sind natürlich durchdachte didaktische Konzepte nötig, die wir zusammen mit der Abteilung E-Learning der Universität Freiburg erarbeiten werden. Diese Konzepte sehen im Übrigen auch vor, dass wir kein reines online-Angebot machen, sondern Anteile in Präsenz und hybride Formate einbeziehen. Wir gehen davon aus, dass sich durch die verstärkte Zusammenarbeit in der Lehre von Zeit zu Zeit gemeinsame weiterführende Projekte, auch unter Einbindung interessierter Studierender, ergeben werden.

Welche Bedeutung kommt Ihres Erachtens einer stärken internationalen Vernetzung hinsichtlich des Erhalts und der Weiterentwicklung kleiner Fächer wie "Mittellatein und Neulatein" zu? Wo sehen Sie ggf. auch Grenzen oder besondere Herausforderungen?

Wir hoffen, dass die internationale Vernetzung die Attraktivität unseres Lehrverbunds erhöht und sich sein Einzugsgebiet erweitert. Wir haben mit Zürich den bedeutendsten Standort für Mittellatein in der Schweiz und mit Innsbruck den bedeutendsten Standort für Neulatein in Österreich an Bord. Der Kontakt mit anderen Traditionen und Kompetenzen an internationalen Standorten ist für Studierende oft bereichernd. Unser Lehrverbund ist im Prinzip auch offen für weitere Teilnehmende. Mittelfristig möchten wir besonders einen Standort aus der angelsächsischen Welt für eine dauerhafte Zusammenarbeit gewinnen. Bereits jetzt sind Angebote in englischer Sprache für ein globales Publikum vorgesehen. Dass die damit gewonnene Diversität und Breite ein Element im Erhalt und der Weiterentwicklung unserer Fächer sein kann, versteht sich von selbst. Natürlich gibt es aber auch andere Erfolg versprechende Strategien, und natürlich gibt es besondere Hindernisse auf unserem Weg. Die größte Herausforderung besteht wohl gleich am Beginn darin, einen für alle Partneruniversitäten akzeptablen administrativen Rahmen zu finden, in dem wir als Verbund operieren können. Zu den Problemen gehören hier z.B. verschiedene Implementierungen des Bologna-Systems, die Anerkennung von team-teaching und der Umgang mit digitalen Formaten. All diese Probleme sind auf internationaler Ebene (noch) viel schwieriger zu lösen als auf nationaler.

Digitale Methoden als Element der Lehre, hier Texterkennung eines frühneuzeitlichen lateinischen Drucks mit der Software Transkribus (Bild: https://neolatin.lbg.ac.at/news/automated-transcription-neo-latin-texts-transkribus)

Stefan Tilg hat seit 2014 die Professur für Klassische Philologie (Latein) an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg inne. Zuvor war er Direktor des Ludwig Boltzmann Instituts für Neulateinische Studien in Innsbruck und Privatdozent an der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte liegen u.a. im Antiken Roman und der Neulateinischen Literatur. Professor Tilg ist Mitherausgeber des Oxford Handbook of Neo-Latin. Weitere Informationen

Weitere Projektbeteiligte

Prof. Dr. Carmen Cardelle de Hartmann, Universität Zürich Philosophische Fakultät, Seminar für Griechische und Lateinische Philologie

Prof. Dr. Frank Bezner, Universität Freiburg Seminar für Griechische und Lateinische Philologie, Abt. Lateinische Philologie des Mittelalter

Prof. Dr. Florian Schaffenrath, Universität Innsbruck Philologisch-kulturwissenschaftliche Fakultät, Institut für Klassische Philologie und Neulateinische Studien