Die Turkologie befasst sich mit verschiedenen Aspekten, beispielsweise Sprache, Literatur, Kultur und Geschichte, der Türkvölker. Hierzu gehören neben den Türkei-Türken und relativ bekannten, zahlenmäßig großen Völkern wie Aserbaidschanern, Usbeken, Uighuren, Kasachen und Tataren auch weniger bekannte größere und kleinere Gruppen wie die Tschuwaschen, Jakuten, Tuviner, Chakassen und Karaimen, insgesamt rund vierzig Ethnien. Je nach Standort und Forschungsprofil der Lehrstuhlinhaberin beziehungsweise des Lehrstuhlinhabers stehen unterschiedliche inhaltliche und regionale Aspekte im Vordergrund, beispielsweise Türkeistudien, Geschichte und Kultur des Osmanischen Reiches, altuighurische Philologie, zentralasiatische Türkvölker, vergleichende sprachwissenschaftliche Gesamtturkologie oder türkische Literatur. In Deutschland genießt das Türkei-Türkische den Status eine primus inter pares und ist obligatorischer Bestandteil der meisten Curricula. Dies hat neben der Tatsache, dass das Türkische die sprecherreichste Türksprache ist, auch mit den historisch gewachsenen engen Beziehungen zwischen Deutschland und dem Osmanischen Reich beziehungsweise der Türkischen Republik zu tun, sowie mit der hohen Zahl türkeistämmiger Einwanderer und Mitbürger in Deutschland. Aber auch Kenntnisse der historischen Vorstufe des Türkischen, des Osmanisch-Türkischen, sind unverzichtbar für ein Verständnis der heutigen Türkei, und folglich in den meisten turkologischen Lehrprogrammen verankert. Da Deutsche und Russen wissenschaftshistorisch eine eminente Rolle in der turkologischen Forschung gespielt haben und dies noch immer tun, sind neben dem Englischen auch Deutsch und Russisch unverzichtbare internationale Wissenschaftssprachen der Turkologie, und die deutsche Turkologie genießt bis heute ein hohes Prestige auch und gerade in der türksprachigen Welt.
Als Mainzer Lehrstuhlinhaber stehe ich einerseits in einer spezifischen Mainzer Turkologie-Tradition, die seit Jahrzehnten den Focus auf linguistische Gesamtturkologie legt, mit teilweise herausragenden, international viel beachteten Forschungsleistungen, die es in der Gegenwart und der Zukunft so gut wie irgend möglich fortzusetzen gilt; eine nicht unbeträchtliche Verantwortung. Auf der anderen Seite steht seit ein paar Jahren die institutionelle Einbindung in das neu gegründete Institut für Slavistik, Turkologie und zirkumbaltische Studien, welche neue Perspektiven auf regionale und inhaltliche Schwerpunkte sowie Chancen für Kooperationen in Forschung und Lehre eröffnet. Und schließlich gibt es die Erwartungen der Studierenden, die sich meistens über das Türkei-Türkische für die Turkologie zu interessieren beginnen und die erst im Laufe des Studiums den Reiz der sprachlichen und kulturellen Vielfalt in der türksprachigen Welt begreifen. Innerhalb dieser Gemengelage haben wir in Forschung und Lehre zu agieren. Mit vielen sogenannten kleinen Fächern und sicherlich allen Turkologie-Standorten in Deutschland teilen wir das Los, ein in der historischen, arealen und inhaltlichen Dimension gewaltiges Fach mit relativ geringen personellen Kapazitäten und äußerst begrenztem Sachmittelbudget repräsentieren zu müssen.
Bei den meisten Menschen kann ein Wissen um die Existenz eines Faches wie der Turkologie sicherlich kaum vorausgesetzt werden. Wenn ich nach meinem Beruf gefragt werde, muss ich meistens erläutern, worum es sich handelt. Bei allgemein politisch, historisch oder kulturell interessierten Menschen muss man allerdings kaum für die Notwendigkeit der Existenz des Faches werben. Die Turkologie wird in solchen Kreisen meistens als relevant und wichtig anerkannt.
Die breite Öffentlichkeit nimmt die Turkologie meistens tagesaktuell wahr, etwa wenn es um die politischen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland, um punktuelle Ereignisse aus den Nachrichten oder um aktuelle regionale Entwicklungen beispielsweise in Zentralasien geht. Hier erreichen uns häufig Anfragen von Medien nach Experten, die wir teilweise aber nicht in wünschenswertem Umfang beantworten können. Bei insgesamt zehn Standorten, die mit dem wissenschaftlichen Tagesgeschäft bestens ausgelastet sind, ist es selbstverständlich ausgeschlossen, für jede Eventualität einen Experten bereitzuhalten. Des Weiteren sind wir unter anderem zu nachhaltiger Grundlagenforschung angehalten, folglich kann nicht jeder von uns kompetente Antworten zu jeder politischen Entwicklung in einem türksprachigen Land, zu Unruhen hier und dort oder zu einem bestimmten, zufällig gerade aktuellen kulturellen Phänomen liefern, wenngleich wir uns wie alle Bürger natürlich für diese Fragen interessieren. Hier klaffen Erwartungen und Wirklichkeit oft beträchtlich auseinander.
Die Unterstützung der Hochschulleitungen für die Turkologie ist meinem Eindruck zufolge konjunkturell und hat viel mit der konkreten Lage, den zwischenmenschlichen Beziehungen und der Kooperativität der beteiligten Akteure zu tun. Dies lässt sich an der Schließung von Standorten, aber auch an der Schaffung neuer Stellen erkennen. Fast jede Pensionierung einer Turkologieprofessorin oder eines Turkologieprofessors bedeutet, dass das Fach an dem betreffenden Standort zur Disposition steht. Schließung oder Weiterführung sind oft eher vom Zufall oder von ad hoc-Entscheidungen abhängig als von langfristigen, strategischen Überlegungen.
Dabei ist die Wichtigkeit der Turkologie schlechthin im Lichte der deutsch-türkischen Beziehungen, der großen Zahl türkeistämmiger Mitbürgerinnen und Mitbürger, der wachsenden geopolitischen Bedeutung Zentralasiens sowie der Bedeutung der Türkvölker für die Geschichte Eurasiens in der aufgeklärten Öffentlichkeit weitgehend unstrittig und auch den Hochschulleitungen meist vermittelbar. Dass Kompetenz in den Sprachen, den kulturellen Besonderheiten und in der historischen Entwicklung dieser Völker grundsätzlich gebraucht wird, ist leicht einzusehen. Womit die Turkologie zuweilen zu kämpfen hat, ist einerseits Unwissenheit über die Vielfalt der fachlichen Dimensionen der Turkologie sowie andererseits ein mangelndes Bewusstsein der Akteure in den Hochschulleitungen für eine standortübergreifende, die nationale und internationale Gesamtlage berücksichtigende Verantwortung. Jede Hochschule hätte sicherlich gerne "was Modernes zur Türkei", aber wir brauchen auch Experten beispielsweise für Altuighurisch, Usbekisch, Osmanische Geschichte und die Geschichte Zentralasiens.
Als Disziplin, die sich linguistischer, historischer, literatur-, kulturwissenschaftlicher und anderer Methoden bedient, ist die Vernetzung der Turkologie mit anderen Fächern nicht nur eine Notwendigkeit, sondern auch eine Selbstverständlichkeit. Sie ergibt sich zudem auch wissenschaftshistorisch dadurch, dass die Anfänge der europäischen Turkologie meistenteils in der Orientalistik, teilweise auch in der Linguistik liegen, Disziplinen, die früher die meisten Forscherpersönlichkeiten auf dem Gebiet hervorgebracht haben und aus denen sich die Turkologie als Teildisziplin herausgebildet und schließlich verselbstständigt hat. Die Verbindungen zu diesen Fächern sind auch heute noch stark. Des Weiteren befinden sich die Türksprachen in dem gewaltigen geographischen Areal ihrer Verbreitung von jeher in engem sprachlichen und kulturellen Kontakt und Austausch mit Sprechern anderer Sprachen, so dass sich auch zahlreiche Verbindungen zur Iranistik, Mongolistik, Slavistik, Sinologie, Indologie, Finno-Ugristik und vielen weiteren Disziplinen ergeben, die eine Vernetzung und einen Austausch nahelegen und oftmals erfordern. In der Wissenschaftspraxis bietet Vernetzung mit anderen Fächern nicht nur die Möglichkeit zum Austausch von know how, sondern auch vielversprechende Chancen in der Drittmitteleinwerbung.
Am objektiven Bedarf an turkologischer Kompetenz auch in langfristiger Perspektive habe ich keinen Zweifel. Durch Globalisierung und die wachsende Bedeutung von Staaten mit einer Amtssprache aus dem Kreise der Türksprachen, durch Migration und Austausch werden turkologische Themen stets aktuell bleiben. Auch die Erforschung kleiner, auf den ersten Blick unbedeutend erscheinender Sprachen und ihrer Sprecher ist wichtig im Sinne von Sprachdokumentation, Bewahrung von kulturellem Erbe und Wissen um das ideelle und materielle Gut der menschlichen Zivilisation. Sowohl die Aufgaben der akademischen Turkologie als auch das öffentliche Interesse an turkologischem Sachverstand nehmen seit Jahren zu, ein Umstand, der die Perspektiven für das Fach insgesamt positiv erscheinen lässt. Vom Aspekt der fachlichen und allgemein wissenschaftlichen Notwendigkeit abgesehen stellt sich die Frage nach der Stärke der institutionalisierten Turkologie. Neben dem erwähnten konjunkturellen Moment, das für den Fortbestand von Turkologie-Professuren durchaus ein Risiko darstellen kann, ist insgesamt ein Wachstum dieser jungen, noch keineswegs vollständig formierten Disziplin zu beobachten. Insofern sehe ich die Zukunft der Turkologie verhalten optimistisch.
Die Zukunftsaussichten eines Faches mit so wenigen Fachvertretern hängen allerdings besonders stark vom Agieren der einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ab, sowohl was eine standortübergreifende Zusammenarbeit anbelangt, als auch innerhalb der Universitäten im Hinblick auf die Vernetzung mit Nachbardisziplinen in Forschung und Lehre. Meine Erfahrungen diesbezüglich sind insgesamt positiv, und mein Eindruck ist, dass sich die Vernetzung und die Solidarität zwischen den turkologischen Standorten in Deutschland und auf internationaler Ebene zunehmend intensivieren. Eine möglichst multilaterale Vernetzung ist die Lebensversicherung kleiner Fächer gegenüber den Begehrlichkeiten anderer Disziplinen und drohenden Einsparbeschlüssen der Hochschulleitungen.
Julian Rentzsch habilitierte im Juli 2014 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und ist an dieser nach Forschungsaufenthalten in Mazedonien und Ungarn seit Juli 2017 Professor für Turkologie. Seine Arbeitsschwerpunkte sind vergleichende sprachwissenschaftliche Turkologie und moderne türkische Literatur. Weitere Informationen finden sich auf der Homepage von Julian Rentzsch.