Der Schriftsteller Stefan Hertmans zu Besuch in Oldenburg. ((c) Thomas Boyken)

Ihr Fach gehört zu den sogenannten kleinen Fächern. Bitte stellen Sie uns Ihr Fach in wenigen Sätzen vor.

Mit Wurzeln in Einzelprofessuren in zunächst Bonn und Leipzig seit Ende des 19. Jahrhunderts hat die Niederlandistik – als Studium der Sprache und Literatur des niederländischen Sprachraums, der im Kern die Niederlande, Flandern und Suriname umfasst – in Deutschland in den 1980er Jahren einen Wachstumsschub erlebt. Seitdem gibt es an vier Standorten Institute mit zwei Professuren, wovon eine sprach- und eine literaturwissenschaftlich: in Berlin, Köln, Münster und Oldenburg. Dieser niederlandistische Kern wird flankiert von jeweils spezifischen kleineren Formationen mit Niederlande- oder Flandernbezug im deutschen Sprachgebiet, zum Teil mit Einzelprofessuren, u.a. in Duisburg-Essen, Mainz, Münster, Paderborn, Wien und Zürich.

Welche Rahmenbedingungen an Ihrem Fachstandort wirken sich wesentlich auf Ihre Lehr- und Forschungspraxis aus? Wie beurteilen Sie diese?

Für lohnendes und im Idealfall erfolgreiches Arbeiten in einem kleinen Fach braucht es aus meiner Sicht drei strukturelle Rahmenbedingen. Zunächst eine fakultäre und universitäre Konstellation, die nicht nur offen für interdisziplinäre Fragestellungen und Arbeiten zwischen verschiedenen Disziplinen auf Augenhöhe ist, sondern auch Strukturen, die diese aktiv fördern. Ein solches Biotop, das für interdisziplinäres Arbeiten wachstumsfördernd ist, ist in Oldenburg seit ihrer Gründung 1974 konstitutiv für die Universität als Ganze. Im Fall der Niederlandistik zum Beispiel ist der überzeugendste Beleg die Mitarbeit meiner sprachwissenschaftlichen Kollegin Esther Ruigendijk im Oldenburger Exzellencluster Hearing4All, in dem sie eine von 25 PIs in einem Umfeld von Audiologen und Medizinern ist – auf der Grundlage der grundlegenden Einsicht, dass menschliches Hören im Kern nicht das Hören von Signalen ist, sondern von Sprache und Sprachstrukturen. Hinzu kommt, zweitens, dass die Gremienstrukturen an einer Universität auch offen für Mitgestaltung durch Professorinnen und Professoren aus kleinen Fächern sind – die diese Chance dann aber natürlich auch ergreifen müssen –, auf fakultärer wie auf gesamtuniversitärer Ebene. Auch hier ist Oldenburg ein perfekter Standort für Personen, die mit guten Ideen die universitären Strukturen mitgestalten wollen, unter denen sie arbeiten. Drittens ist für qualitativ hochstehende Lehr- und Forschungspraxis in einem kleinen Fach dasselbe wichtig, was für jedes Fach gilt: dass man sich nachhaltig auf Fachinhalte konzentrieren kann – im Unterschied zur Konzentration auf zum Beispiel Legitimations-, Marketing- oder Werbungsdebatten. Dabei hilft es einem kleinen Fach sehr, wenn ein strukturelles Alleinstellungsmerkmal auf Bundeslandebene vorliegt. Auch dies ist in Oldenburg der Fall: Oldenburg ist der einzige Niederlandistik-Standort in Niedersachsen. Hinzu kommt, dass Oldenburg in Fahrrad-Tagestour-Reichweite der einzigen internationalen Grenze Niedersachsens liegt und, an einer Universität mit einer langen und starken Tradition im Angebot von Lehramtsstudiengängen, das Institut seit 2009 grundständige Lehramtsstudiengänge Niederländisch für das Lehramt an Haupt- und Realschulen, berufsbildenden Schulen und Gymnasien (mit etwa 5000 Schülerinnen und Schülern landesweit) anbieten darf.

Schließlich ist eine wichtige Rahmenbedingung für das Funktionieren eines kleinen Fachs wie die Niederlandistik, gerade in der Lehre, die Kooperation mit lokalen Akteuren wie Bibliotheken, Museen, oder anderen Kulturakteuren vor Ort. So organsiert zum Beispiel jeden Sommer das Institut in Kooperation mit dem Literaturhaus Oldenburg den Besuch eines niederländischsprachigen gastschrijver, der dann nachmittags an einem Seminar teilnimmt, das ausschließlich einem seiner Werke gewidmet ist, und abends auf Deutsch im Oldenburger Literaturhaus aus einem seiner jüngst übersetzten Romane vorliest und ausführlich über seine Literatur spricht (2022 war Marente de Moor zu Besuch und 2023 Stefan Hertmans). Kurzum: die Arbeitsbedingungen für einen Niederlandisten in Oldenburg sind nicht ganz schlecht, wie man mit norddeutschem understatement sagen könnte.

Was spricht Ihres Erachtens dafür oder dagegen, dass Ihr Fach in der Öffentlichkeit und innerhalb des deutschen Hochschulsystems angemessen wahrgenommen wird?

Meine Tätigkeit in Oldenburg seit 1997 überblickend, fällt mir nichts ein, woraus ich ableiten könnte, dass mein Fach im deutschen Hochschulsystems nicht angemessen wahrgenommen würde. So gehen Forschungsförderinstitutionen wie zum Beispiel die DFG nach meiner Erfahrung adäquat und sensibel damit um, dass sie es mit einem kleinen Fach zu tun haben, in dem intersubjektive, kriterienorientierte Beurteilungen einzuholen eine andere Herausforderung darstellt als etwa in der Germanistik. Das gilt nach meiner Erfahrung im Übrigen auch für die Wahrnehmung der deutschsprachigen Auslandsniederlandistik innerhalb des niederländischen Sprachraums, mit dem Kooperation auf Augenhöhe immer sehr gut gelingt. In der außeruniversitären Öffentlichkeit stößt man zwar bisweilen auf Erklärungsbitten – was sind Sie, Niederlandist? – aber das muss kein Nachteil sein. Eine ehemalige Studentin erzählte mir, sie habe ihren Job bei der deutschen Botschaft in den USA nur bekommen, weil die Kommission über ihr außergewöhnliches Zweitfach – Niederlandistik eben – gestolpert sei.

Haben Sie den Eindruck, dass die Vernetzung mit anderen Fächern einen Mehrwert für Ihr Fach bedeutet? Welche Kooperationsformen sind in diesem Zusammenhang für Sie interessant und mit Blick auf Ihren Fachgegenstand besonders geeignet?

Wie bereits gesagt, bin ich überzeugt davon, dass kleine Fächer immer profitieren von der Vernetzung mit anderen. Das gilt insbesondere auch für mein Fach, die niederländische Literaturwissenschaft. Der Mehrwert weist dabei ein Spektrum auf, das von einer besseren Doktoranden-Ausbildung durch ein gesamtuniversitäres literaturwissenschaftliches Kolloquium (zusammen mit Anglisten, Amerikanisten, Germanisten und Slavisten) reicht bis hin zu Forschungsarbeiten zur Bourdieuschen Feldtheorie aus vergleichender Perspektive, die etwa ohne Einsichten meiner slavistischen Kollegin vor Ort zu „Kleinen Literaturen“ in Belarus und der Ukraine anders ausgesehen hätte. Auch für mein jüngstes DFG-Projekt zu den Literaturauffassungen der juristischen und politischen Eliten in den Niederlanden im 20. Jahrhundert ist der Dialog mit anderen Fächern konstitutiv, wie allein schon der Titel indiziert. Interdisziplinäre Tagungen in einem Format, in dem vor (!) der Tagung verschickte und von allen gelesene Artikel-Entwürfe in kleinem, auf interdisziplinäre Komplementarität hin ausgewählten Kreis von etwa 10-15 Personen, die ich in den letzten Jahrzehnten organisieren durfte, gehörten immer zu den Höhepunkten meiner Arbeit als Hochschullehrer.

Welche Bedeutung haben außeruniversitäre (Forschungs-)Institute für Ihr Fach?

In Deutschland spielen solche Institute für die Niederlandistik keine große Rolle, wenn auch natürlich für Einzelpersonen ein Aufenthalt an einem Institute for Advanced Study immer ein enormer Gewinn ist (das NIAS zum Beispiel, jetzt in Amsterdam, bietet für einen Niederlandisten geradezu paradiesische Arbeitsbedingungen). Was außeruniversitäre Institute in den Niederlanden angeht, so ist es sinnvoll und wichtig, dass es die KNAW-Institute wie das Meertens-Institut und das Huygens ING gibt, da dort grundlegende Infrastruktur-Projekte vorangetrieben werden, die jeden universitären Rahmen überschreiten, seien es nun traditionelle Editionen wie die Gesamtausgabe der Werke von W.F. Hermans oder das Bereitstellen einer digitalen Forschungsdateninfrastruktur für Sprach- und Literaturwissenschaftler (ein Bereich, in dem die Niederlandistik qua Digitalisierung und Digitalisaten über – weltweit gesehen – sehr avancierte Rahmenbedingungen verfügt).

Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Faches? Welche Entwicklungen und Herausforderungen zeichnen sich für Sie ab? Was wäre Ihres Erachtens für eine positive Entwicklung Ihres Fachs hilfreich?

Die größte Herausforderung für die Niederlandistik ergibt sich aus der globalen Tendenz der sinkenden Studierendenzahlen in den Geisteswissenschaften, insbesondere in den Sprachen, und dann auch noch einmal generell in Deutschland in den Lehramtsstudiengängen. Wenn es gelänge, Hochschulpolitiker und Hochschulleitungen erstens davon zu überzeugen, dass es unrealistisch ist, diesen Trend umzukehren – insbesondere angesichts des demographischen Wandels; was im Übrigen nicht gleichbedeutend damit ist, keine Aktivitäten zu unternehmen die Sichtbarkeit und Attraktivität des eigenen Standort zu erhöhen –, und zweitens davon, dass die Hochschulpolitik deswegen strukturelle Entscheidungen treffen muss, welche kleine Fächer sie halten wollen und welche nicht, dann wäre mir für die Niederlandistik in Deutschland, zumindest an den lehramtsbildenden Standorten, im Allgemeinen nicht bange. Jedenfalls bin ich davon überzeugt, dass für diejenigen, die den Forschungsstand in ihrer Disziplin und im interdisziplinären Dialog voranbringen wollen, die sich für gute Lehre in kleinen Gruppen engagieren und deren Gestaltungswille auch universitäre Institutionen und Gremien miteinschließt, die Niederlandistik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg ein Ort ist und bleiben wird, an dem als Niederlandist zu arbeiten überdurchschnittliche Erfolgschancen bietet.

Ralf Grüttemeier ((c) Carl von Ossietzky Universität Oldenburg)

Ralf Grüttemeier hat seit 1997 eine Professur für Niederländische Literaturwissenschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg inne. Frühere Stationen seiner akademischen Laufbahn waren unter anderem Amsterdam, Köln und Ankara. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die niederländische Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie die Beziehungen zwischen Literatur und Recht. Das aktuelle DFG-Projekt Professor Grüttemeiers trägt den Titel „Ein Land der mittelmäßigen Literatur“. Literaturkonzepte der juristischen und politischen Eliten in den Niederlanden im 20. Jahrhundert.  Zuletzt veröffentlichte er "Intention an Interpretation. A short history" (2022).

Weitere Informationen: Prof. Dr. Ralf Grüttemeier // Universität Oldenburg (uol.de)