Hebammenwissenschaft vermittelt und generiert systematisch wissenschaftliches Wissen zur evidenzbasierten Betreuung von Schwangeren, Gebärenden und Wöchnerinnen mit Kind sowie deren Angehörigen. Der Betreuungszeitraum erstreckt sich hierbei von der Familienplanung bis zum Ende der Stillzeit. Die hebammengeleitete Betreuung von Mutter und Kind ist zwischen Geburtshilfe und Kinderheilkunde verortet, sodass es mit beiden Bereichen Schnittstellen gibt. Die Betreuung von Mutter, Kind und deren Angehörigen von der Phase der Familienplanung bis zum Ende der Stillzeit enthält teilweise vorbehaltene Tätigkeiten. Dies sind Tätigkeiten, die nur von der Hebamme ausgeübt werden. Da jeweils immer eine Mutter mit ihrem Nachwuchs betreut wird, wird Hebammenwissenschaft im Singular verwendet. Neben der individualwissenschaftlichen Verortung mit dem damit einhergehenden Behandlungsauftrag gibt es gesundheitssystemische Bezüge. Gesundheitsorientierung ist in allen Bereichen der Hebammentätigkeit von maßgeblicher Bedeutung. Im Bereich der Versorgung sei hier auf die ausgedehnte Forschung zur Bedeutung der kontinuierlichen Hebammenbetreuung hingewiesen.
Der Hebammenberuf ist einer der ältesten Berufe der Welt. Das Gebären sowie die Betreuung der Gebärenden sind in allen Kulturen im alltäglichen Leben verankert. Hebammen sind damals wie heute für die Betreuung von Frauen während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zuständig. Erste klinische Studien zur Hebammentätigkeit gab es im angelsächsischen Raum zur Effektivität von Einlauf und Dammschnitt. Archibald Cochrane hat zusammen mit Murray Enkin, Ian Chalmers und Marc Keirse alle kontrollierten Studien in der Geburtshilfe systematisch zusammengetragen. Oxford University Press publizierte im Herbst 1989 zwei daraus entstandene umfangreiche Bände mit dem Titel "Effektive Betreuung während Schwangerschaft und Geburt". Die Übersetzung der dazugehörigen Handbücher wurde in Deutschland von Hebammen initiiert. Ziel war es, die Effektivität von Interventionen systematisch zu evaluieren, um Morbidität und Mortalität von Müttern und Kindern zu senken. Dabei zeigte sich, dass weniger oft mehr sein kann und ein routinemäßiger Einlauf oder ein Dammschnitt nicht das mütterliche oder kindliche Outcome verbessern. Im September des gleichen Jahres gab es in Tübingen einen Forschungsworkshop des Internationalen Hebammenverbandes (ICM) mit dem Titel "Hebammen brauchen Forschung - Die Forschung braucht Hebammen". In der Folge fanden jährlich Workshops zur Hebammenforschung im deutschsprachigen Raum statt. Evidenzbasierte hebammengeleitete Gesundheitsversorgung bedeutet immer eine frauenzentrierte Betreuung. Hebammen beraten Schwangere ausführlich, individuell und bedürfnisorientiert unter Einbeziehung evidenzbasierter Erkenntnisse. In 2014 hat die Lancet-Serie zur Hebammentätigkeit einen Qualitätsrahmen zur Mutter-Kind-Gesundheit veröffentlicht. Seitdem wird weltweit dazu geforscht, welche Weiterentwicklung der Hebammenberuf jeweils in den einzelnen Ländern benötigt, um die Professionsmerkmale einer wissenschaftlichen Disziplin umfassend zu erfüllen und in praktisches Handeln umzusetzen. In Deutschland beschloss der Gesetzgeber mit dem Hebammengesetz vom 22.11.2019 die Überführung der Ausbildung in ein akademisches Hebammenstudium, das sich an dem Erwerb von Kompetenzen ausrichtet. Bislang war Deutschland mit der alleinigen beruflichen Bildung von Hebammen Schlusslicht in Europa. Alle anderen europäischen Länder hatten die Ausbildung bereits zu einem früheren Zeitpunkt auf akademisches Niveau angehoben. Seit einigen Jahren haben sich an verschiedenen Standorten in Deutschland Arbeitsgruppen zur Hebammenwissenschaft etabliert. An der Medizinischen Hochschule Hannover wurde die seit 2001 bestehende Arbeitsgruppe Hebammenwissenschaft 2020 in eine Lehr- und Forschungseinheit überführt. Bereits 2009 kam der Europäische Masterstudiengang Hebammenwissenschaft hinzu, welcher eine fachspezifische Höherqualifizierung von Hebammen auch in Deutschland ermöglicht. (Fach)Hochschulen haben gegenüber Universitäten den Vorzug, dass sie unabhängig von einer medizinischen Fakultät innovative akademische Strukturen aufbauen können. In der Regel ist darunter eine Fakultät oder ein Institut für Hebammenwissenschaft zu verstehen. An den Universitäten beobachten wir in Zeiten knapper Ressourcen, dass Professuren zur Hebammenwissenschaft zwar ausgeschrieben werden, damit jedoch nicht immer eine strukturbildende fachwissenschaftliche Maßnahme einhergeht. Universitäten haben in der Strukturbildung weiterhin Nachholbedarf.
Die hebammenwissenschaftliche Tätigkeit im Umkreis einer universitären Frauenklinik gibt unmittelbare Einblicke in die geburtshilfliche Klientel, die zunehmend heterogen geworden ist. Längst unterscheiden wir geburtshilflich nicht mehr nur zwischen Erst- und Mehrgebärenden. Eine weitere große Gruppe an Gebärenden sind diejenigen, die einen Kaiserschnitt in der Anamnese tragen oder unter chronischen Erkrankungen und weiteren gesundheitlichen Risikofaktoren leiden. Auch können sich junge Gebärende (unter 20 Jahre) und ältere Gebärende (über 45 Jahre) gemeinsam ein Wöchnerinnenzimmer teilen. Gebärende, die die kontinuierliche Betreuung schätzen und ihr Kind in einem Geburtshaus oder im häuslichen Umfeld zur Welt bringen, haben einen signifikant höheren Bildungsstatus im Vergleich zur Klientel in den Kliniken. Vor diesem Hintergrund ergeben sich zahlreiche Forschungsfelder, wie bestimmte Zielgruppen gesundheitsorientiert kontinuierlich betreut werden können. In der Lehr- und Forschungseinheit Hebammenwissenschaft der Medizinischen Hochschule Hannover untersuchen wir Faktoren, wie beispielsweise das Befinden der Mutter während des Gebärens und in einzelnen Geburtsphasen. Dem Geburtsgewicht des Kindes kommt hinsichtlich der Geburtsdauer eine tragende Bedeutung zu. Bekannt ist, dass es Unterschiede zwischen klinischen Einrichtungen, z.B. in der Rate der Spontangeburten gibt, die nicht durch mütterliche und/oder kindliche Faktoren erklärt werden können. Dieser Unterschied war in einer großen europäischen Studie zur vaginalen Geburt bei Zustand nach Kaiserschnitt, an der auch fünf Kliniken in Deutschland teilnahmen, besonders bedeutsam. Je nach Einrichtung gab es starke Abweichungen in der Anzahl an Frauen, die trotz vorangegangenem Kaiserschnitt vaginal gebären konnten und jenen mit erneutem Kaiserschnitt. In einigen Projekten wird nun daran gearbeitet, Unterschiede in den persönlichen Einstellungen von Hebammen und Ärzten in den Einrichtungen zu erfassen und zu erklären. Für diese Einstellungsuntersuchungen verwenden wir bereits in anderen Ländern entwickelte Forschungsinstrumente und validieren sie gegebenenfalls in deutscher Sprache. In globalen Erhebungen können wir an der Untersuchung zentraler Fragestellungen für die Geburtshilfe mitwirken. Dies ist 2016 für die Lancet-Serie zur Totgeburt erfolgt und findet derzeit in einer Erhebung statt, die die Erfahrungen von Eltern, die ein Kind während der COVID-19-Pandemie erwarten, zum Gegenstand hat. Neben der Gesundheitsorientierung und Fragen der komplexen Geburtshilfe in Industrieländern ist ein weiterer Schwerpunkt, die Hebammenbetreuung während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett in Ländern wie Benin, Malawi, Tansania und Uganda mit dem Ziel, die geburtshilflichen Ergebnisse von Mutter und Kind zu verbessern. Die generelle Frage lautet, wie zukünftig mehr Frauen besser vaginal gebären können. Der Fokus der Forschung sollte demnach nicht nur auf dem bestmöglichen Geburtsergebnis liegen, sondern es sollten bereits "Etappenziele" erreicht werden, mit denen die Gebärende zufrieden sein kann, z.B. Beginn der aktiven Eröffnungsphase oder auch die vollständige Muttermunderöffnung. Für einige Frauen kann es auch ein erfreuliches Ergebnis sein, das Kind überhaupt bis zum Geburtstermin austragen zu können.
Der Hebammenberuf ist ein alter und regelgeleiteter Beruf. Grundsätzlich braucht es den üblichen klaren Hebammenverstand auch für die Arbeit im Hochschulsystem. Dazu gehören Ausdauer, Konsistenz und Wissen. Hebammenwissenschaft ist keine Modewissenschaft. Grundlegende mäeutische Prinzipien sind Gegenstand des hebammenwissenschaftlichen Handelns auch im Hochschulsystem. Durch Informationen und gezielte Fragen der Hebamme sollen die betreuten Frauen möglichst viel für sich selbst herausfinden. Hebammenwissenschaft ist eine vergleichsweise junge wissenschaftliche Disziplin. Der Hebammenberuf galt lange als Handwerk mit Professionsmerkmalen. Es ist insgesamt eine neuere Entwicklung seit Ende des letzten Jahrhunderts, dass regelgeleitetes Wissen für die Hebammentätigkeit systematisch untersucht wird. Mit der öffentlichen und politischen Diskussion der Akademisierung des Hebammenberufes in Europa bekam das Fach zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit. Für Frauen und ihre Familien gilt es, bestmögliche Bedingungen zu finden und den gesellschaftlichen Anforderungen an die Aspekte der Familienplanung bis zum Ende der Stillzeit in vollem Umfang Rechnung zu tragen. Beim wissenschaftlichen Arbeiten sind immer wieder gleiche Vorgänge anzutreffen, die systematisches Arbeiten nach festen Regeln zulassen. Dies ermöglicht es, dass einzelne Arbeitsschritte in vergleichbaren Situationen wiederholt werden können. Untersuchungsergebnisse können somit in einer vergleichbaren Situation überprüft werden. Dieser Ansatz wird im wissenschaftlichen Alltag notwendigerweise immer wieder variiert. Was sich zunächst als einfache Wiederholung anhört, erfordert gelegentlich kreative Lösungen. Zur Geburtshilfe gibt es interessante Parallelen. Gebären ist für Hebammen ein sich wiederholendes Geschehen, das regelhaft verläuft, jedoch ständig Variationen durch den individuellen Verlauf erfährt. Die Betreuung einer Einlingsgeburt in Schädellage hört sich für Außenstehende als eine vergleichbare Situation an. Bekanntlich variiert sie insbesondere zwischen Erst- und Mehrgebärenden. Aber auch innerhalb einer Paritätsgruppe können Einlingsgeburten in Schädellage sehr unterschiedlich sein. Zur Vielfalt in der Hebammenwissenschaft wie auch in der Hebammentätigkeit trägt bei, dass Hebammen längst in einem multikulturellen Kontext arbeiten. So wie Hebammentätigkeit längst in einer multikulturellen Gesellschaft angekommen ist, so ist auch Hebammenwissenschaft global verortet. Öffentlichkeitswirksame Dokumente wie zum Beispiel das Nationale Gesundheitsziel "Rund um die Geburt" (2017) adressieren diese Klientelvielfalt und die damit verbundenen Bedürfnisse einer gesundheitsorientierten kontinuierlichen Hebammenbetreuung. Es ist nun Aufgabe der Länder und Kommunen, die Gesundheitsorientierung rund um Schwangerschaft, Geburt und das erste Lebensjahr umzusetzen und durch Hebammenforschung begleiten zu lassen.
Wissenschaftstheoretisch ist Hebammenwissenschaft im Ereignisraum angesiedelt. Das umschriebene Tätigkeitsfeld ist angelehnt an das Idiographische, d.h. eine das Einzelne beschreibende Disziplin, die ihrerseits um allgemein gültige Evidenzen bemüht ist. Nomothetische Wissenschaften, die auf die Aufstellung allgemeingültiger Gesetzmäßigkeiten abzielen, bereichern die Hebammenwissenschaft mit ihren Erkenntnissen. Darunter werden üblicherweise die Bezugswissenschaften verstanden. Diese transdisziplinären Bezüge ermöglichen es der Hebammenwissenschaft, über die medizinischen Disziplinen hinaus, Kontakt zu weiteren Disziplinen aufzunehmen, die ihrerseits spezielle Aspekte des Berufsbildes vertiefen. Psychologie, Ethik, Soziologie, Geschichte, Public Health und Kulturwissenschaften seien hier exemplarisch genannt. Hebammenwissenschaft ist ein generalistisches Fach, dessen besonderer Vorteil darin liegt, an den originären Themen der Hebammenwissenschaft zu arbeiten und sie dann mit Expert*innen zu vertiefen. Hebammenwissenschaftlich kann man zu jedem Themengebiet eine fachspezifische Einführung geben. Neuroendokrinologisch besteht an der intrinsischen Aktivierung des Geburtshormons Oxytocin und seiner Interaktion mit intravenösen Gaben ein großes Interesse. Hier greifen die von Anwendung geprägte hebammenwissenschaftliche Literatur und die grundlagenwissenschaftliche Forschung ineinander. Die Vertiefung kann optimal von den Spezialist*innen der jeweiligen Fächer erfolgen. Damit kann die multiprofessionelle Zusammenarbeit durch einschlägige hebammenwissenschaftliche Arbeiten bereichert werden. Gesetzlich ist vorgegeben, dass Studierende der Hebammenwissenschaft am interprofessionellen Lernen partizipieren. An verschiedenen Standorten (z.B. der Hochschule für Gesundheit in Bochum und der Ernst-Abbe-Hochschule in Jena) gibt es gelungene Beispiele für interprofessionelles Lernen. Dies bezieht sich beispielsweise auf Notfallmanagement. Es ist wegweisend, angehende Mediziner*innen aus Hebammenperspektive zu unterrichten, um einen interprofessionellen Austausch zu fördern. Schnittstellen gibt es auch mit Studierenden der Sozialen Arbeit oder der Pädagogik.
Zu Beginn meiner akademischen Tätigkeit war es eher eine Vision, dass das Hebammenstudium an die Hochschulen und Universitäten kommt. Heute geht es dort bereits um die unabhängige Disziplinentwicklung der Hebammenwissenschaft. Damit verbunden ist eine erforderliche Kapazitätsentwicklung im Kontext von Strukturen, Berufsfeldern, Nachwuchsförderung. Dies geht einher mit interdisziplinärer Forschung und Vernetzung. Zu den Kernthemen gehören Gesundheitsförderung und -orientierung, dynamische Bearbeitung geburtshilflicher Fragestellungen, Selbstbestimmung, respektvolle Geburtshilfe, angst- und traumasensible Betreuung, Inklusion, Migration, interindividuelle Variabilität. Heutzutage brauchen Frauen gute Konzepte, wie sie gesund bleiben können bzw. an ihre Gesundheitspotentiale (auch kognitiv) anknüpfen können. Antizipation und proaktives Handeln sind immanente Strukturmerkmale des Hebammenberufs, da die gedankliche Vorwegnahme einer kommenden Entwicklung sowie die verschiedenen Handlungsoptionen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden sollten. Natürlich kann dies gewissermaßen jedes Fach für sich in Anspruch nehmen. Blickt man zurück auf die ursprünglichen Intentionen von Archie Cochrane, dann interessiert damals wie heute, dass "mehr Nutzen als Schaden" der Ausgangspunkt für alle Überlegungen ist. Es ist wichtig, dass ein akademisches Fach wie die Hebammenwissenschaft die Gesundheit von Frauen und Kindern in den Mittelpunkt stellt.
Mechthild M. Groß ist die erste habilitierte Hebamme Deutschlands. An der Medizinischen Hochschule Hannover leitet sie die Lehr- und Forschungseinheit Hebammenwissenschaft mit dem von ihr maßgeblich mitbegründeten Europäischen Masterstudiengang Hebammenwissenschaft. Weitere Informationen