Motologie und Psychomotorik ((c) Martin Vetter)

Ihr Fach gehört zu den sogenannten kleinen Fächern. Bitte stellen Sie uns Ihr Fach in wenigen Sätzen vor.

Motologie ist eine aus der psychomotorischen Entwicklungsförderung entstandene, interventionsorientierte Wissenschaft und Lehre von Bewegung, Wahrnehmung und Spiel des Menschen. Der Schwerpunkt des Faches ist es, spiel-, bewegungs- oder wahrnehmungsgetragene Situationen und Angebote für Menschen in Bildung, Entwicklung, Therapie und Gesundheit zu konzipieren, zu analysieren und zu evaluieren.

Es geht also um den Stellenwert von Bewegung im Hinblick auf die Reflexion, Ermöglichung oder Absicherung der Stellung zur Welt und ihrer Teilhabe an Gesellschaft, Bildung und Kultur. Es handelt sich also weniger um funktionale Betrachtung von Bewegung, sondern eher um ein „Verstehen“ von Bewegung mit metaphorisch geladenen Aus- und Eindrücken.

Dafür versucht das Fach, eigene sowie relevante Entwicklungen aus Bezugsdisziplinen wie Pädagogik, Medizin, Psychologie und Bewegungswissenschaften für den Fachdiskurs fruchtbar zu machen. Die Entwicklungen und Forschungen der Motologie fließen in der Praxis u.a. ein in Psychomotorik als pädagogisch-therapeutischem Angebot der ganzheitlichen Bewegungsförderung, Motogeragogik als gesundheitserhaltendem Interventionskonzept für ältere und alte Menschen oder klinische Bewegungstherapie und Körperpsychotherapie als körper- und leiborientierte Zugänge zur Unterstützung von Menschen in pädagogischen und therapeutischen Kontexten.

Um ein einfaches Beispiel aus einem Kontext der traumasensiblen Arbeit zu geben: Es ist für Menschen mit traumatischen Erfahrungen, egal ob groß oder klein, extrem wichtig, ihnen das Gefühl von Kontrolle zurückzugeben. Daher spielen wir, als andere Therapien ergänzende, traumasensible Unterstützung selbst einfachste Fangspiele immer so, dass es einen sicheren Ort gibt, an dem man vor den Fängern im Spiel geschützt ist, eine Art „Safe Place“, wo nicht gefangen werden darf. Diesen Ort darf man jederzeit aufsuchen. Das mag banal klingen, aber es ist spannend zu sehen, wann Menschen im Spiel diesen Ort aufsuchen, wann sie ihn wieder verlassen, um weiter mitzuspielen, und wie sich dieses Verhalten über die Zeit ändert. Und spannend ist dann auch zu sehen, wie sie diese spielerischen Situationen in ihren Alltag übertragen: Ohne, dass das zwingend thematisiert werden muss, wenden sie dieses Prinzip dann auch oft anderswo an und schaffen sich geschützte Orte, die sie durchatmen lassen, beispielsweise in der Ecke im Supermarkt oder bei Menschenansammlungen am Bahnhof.

Im Studium Motologie und Psychomotorik und in entsprechenden Schwerpunktfächern in pädagogischen und sozialen Berufen reflektieren und vertiefen Studierende theorie-/ praxisbasiertes und wissenschaftliches Wissen durch anwendungsorientierte Zugänge, und das ist uns besonders wichtig, in Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben. Das gefällt mir immer noch sehr und ist für uns Teil der Entwicklung von professionellen Arbeitshaltungen!

Denn dadurch erwerben sie personale, soziale und fachliche Kompetenzen für die Arbeit in Entwicklungs- und Gesundheitsförderung, in Bildungseinrichtungen sowie in therapeutischen Kontexten. Sie werden vorbereitet auf Begegnungen und bewegungsgetragene Interventionen im gesamten Altersspektrum, so beispielsweise in Kindergärten, Schulen, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken, in Einrichtungen der Altenhilfe, Gesundheitszentren, freien Praxen, in tertiären Bildungsanstalten sowie in freiberuflicher Tätigkeit. Eine Karriere in Lehre und Forschung, beispielsweise durch eine anschließende Promotion (Dr. phil.) im Fachgebiet Motologie und Psychomotorik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, ist möglich

Welche Rahmenbedingungen an Ihrem Fachstandort wirken sich wesentlich auf Ihre Lehr- und Forschungspraxis aus? Wie beurteilen Sie diese?

Hier an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg gibt es ja einige Besonderheiten, die für mich besonders attraktiv waren, als ich mich entschied, von einer Universität kommend, den Ruf anzunehmen. Da ist zum einen eine besondere Nähe zur Praxis zu nennen, die für unser Fach sehr gewinnbringend ist. Ehrlich gesagt, war es aber so, dass ich zunächst gar nicht so angetan war, als mir in den Berufungsverhandlungen eröffnet wurde, gemäß der Lehrverpflichtungsverordnung des Landes für Pädagogische Hochschulen auch als W3-Professor Schulpraxis und Praktika betreuen zu müssen. Das ist ja eine Besonderheit, auch wenn die PH ansonsten Universitätsstatus mit Promotionsrecht hat. Aber letztlich gehe ich aus jeder Stunde, in der ich die Studierenden begleite, mit vielen Anregungen auch für unsere Forschung hinaus. Und ich hoffe natürlich, den Studierenden geht es genauso!

Dann gibt es hier natürlich Studiengänge, die hochgradige Schnittmengen zu den Menschen haben, mit denen sich unser Fach beschäftigt: Das sind vor allem Studiengänge der Sonderpädagogik und der sozialen Arbeit, aber auch andere Lehramtsstudiengänge. Auch hier geht es ja im engeren oder weiteren Sinne immer auch um Perspektiven der Teilhabe an der Gesellschaft. Wir ergänzen diese Perspektiven für Menschen mit Bildungs- oder Unterstützungsbedarf um einen Zugang über Bewegung. Das an einer PH Schülerinnen und Schüler im Vordergrund stehen und nicht Menschen über die Lebensspanne, sehe ich nicht als Problem an, denn durch meine vielen Jahre in der Schweiz und an Schweizer Hochschulen weiß ich, dass sich das Fach, wie auch dort, im Bildungssystem und der Schule maximal etablieren kann.

Durch die Interdisziplinarität der Studiengänge, das Aufgreifen benachbarter Fachdiskurse, regionale und internationale Vernetzung sowie der Nutzung von vielfältigen, studienintegrierten Modulangeboten der PH Ludwigsburg werden Studierende zudem in die Lage versetzt, neben individuellen auch gesellschaftliche Entwicklungen und Prozesse vor dem Hintergrund des Faches zu hinterfragen, mitzugestalten und zu initiieren. Das halte ich für sehr wichtig für ein kleines Fach!

Was spricht Ihres Erachtens dafür oder dagegen, dass Ihr Fach in der Öffentlichkeit und innerhalb des deutschen Hochschulsystems angemessen wahrgenommen wird?

Dagegen spricht ganz klar die Tatsache, dass in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt die universitären Ressourcen des Faches eher geschrumpft als ausgebaut wurden. Professuren an den Universitäten in Köln, Osnabrück, Oldenburg oder Dortmund, die eine extrem hohe Affinität zum Fach hatten, wurden in den vergangenen Berufungsverfahren mit anderen Denominationen besetzt, bei denen Psychomotorik kaum mehr eine Rolle spielt. Dabei ist der Trend in vielen europäischen Ländern eher gegenläufig: In den vergangenen Jahren haben sich beispielsweise in der Schweiz, in Portugal oder in den Niederlanden an Hochschulen Bachelor- und Masterstudiengänge für Psychomotorik entwickelt.

Aber auch bei uns scheint sich der Trend wieder zum positiven zu wenden: Nicht nur, dass meine jetzige Professur gerade erst für das Fach neu eingerichtet wurde: auch an anderen Orten, wie an der Hochschule Emden/Leer oder an vielen Fachhochschulen gibt es wieder positive Entwicklungen.

Dass wir trotzdem sichtbar sind und geschätzt werden, zeigt sich beispielsweise in den immer hohen Bewerbungszahlen für Studiengänge oder für Scherpunktfächer an Hochschulen. Zudem erfahren wir viel Wertschätzung, wenn wir Partner im Rahmen von Verbundforschungsanträgen oder Netzwerken sind. Hier wird unsere „besondere Position“, so drücken es andere oft aus, sehr geschätzt, weil wir andere Blickrichtungen haben, die wir aber trotzdem auch wissenschaftlich absichern und begründen können.

Haben Sie den Eindruck, dass die Vernetzung mit anderen Fächern einen Mehrwert für Ihr Fach bedeutet? Welche Kooperationsformen sind in diesem Zusammenhang für Sie interessant und mit Blick auf Ihren Fachgegenstand besonders geeignet?

Unbedingt! Wir sind durch unsere Größe immer angewiesen auf Vernetzungen mit anderen Fächern. Wir profitieren sehr von Netzwerken, vor allem ist es für uns sehr hilfreich, wenn wir Partner in Verbundforschungsprojekten sind. Aber auch Kooperationen mit Bildungsträgern wie Schulbehörden oder Schulen und Kindergärten und deren Träger sind für unsere Arbeit immer sehr interessant und es entstehen oft win-win Situationen.

Wir haben aber auch etwas zu bieten, man könnte es auch als Alleinstellungsmerkmale bezeichnen. Um ein Beispiel zu nennen: In einem Pilotprojekt mit Kolleg*innen der Medizin fand eine Bewegungsintervention für Patient*innen statt, die zunächst von den Kollegen der Medizin geleitet wurde. Wir merkten schnell, dass das Potenzial des Angebotes nicht richtig ausgeschöpft schien und führten daraufhin qualitative Interviews mit einigen der Teilnehmenden durch. Auf die Frage, was Ihnen denn an der Bewegungsintervention wichtig sei, antworteten einige Teilnehmende: „Die Situation in der Umkleidekabine nach dem Sport ist uns wichtig“. Sie hatten nur dort das Gefühl, dass sie sich ungestört über ihre Krankheit mit anderen austauschen können. Wir haben dann gemeinsam überlegt, wie wir diesen wichtigen Teil in die Bewegungsstunde hineinholen können, um dem Austausch untereinander einen sicheren Raum zu geben und, darum ging es, diesen natürlich auch der Therapie zugänglich machen zu können. Das ist uns gelungen! Das Feedback des Medizininstitutes war für uns wie ein Ritterschlag: „So ein Zugang wie der der Motologie hat uns immer gefehlt, nur wussten wir das bisher nicht“, so der O-Ton des medizinischen Projektpartners damals.

Welche Bedeutung haben außeruniversitäre (Forschungs-)Institute für Ihr Fach?

Ich habe meine wissenschaftliche Karriere in einem außeruniversitären Institut begonnen und weiß um die Qualitäten und Herausforderungen solcher Einrichtungen. Ich halte sie aber für sehr wichtig, da sie oft wissenschaftliche oder praxeologische Lücken besetzen, die Universitäten nicht besetzen können oder wollen. Zudem beneide ich außeruniversitäre Institute oft um deren Beweglichkeit und Entscheidungsfreude.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Faches? Welche Entwicklungen und Herausforderungen zeichnen sich für Sie ab? Was wäre Ihres Erachtens für eine positive Entwicklung Ihres Fachs hilfreich?

Ein neueres Verständnis von Wissenschaft zeigt deutlich auf, dass deren Fortbestand in einer pluralisierten Welt, in der Wissen (vermeintlich) leicht verfügbar ist, vielleicht sogar davon abhängt, gesellschaftliche Themen und Strömungen, die häufig autark vom Wissenschaftssystem stattfinden, zu beachten und zu integrieren. Das trifft auch auf unser Fach zu. Beispiel hierfür ist das Thema Fluchtmigration, ausgelöst durch natur- oder menschengemachte Katastrophen. Hier braucht es Stellungnahmen aus der Motologie, um aufzuzeigen, dass der bewegungsgetragene Zugang ein besonders wichtiger ist für Menschen, die oft unsere gesprochene Sprache noch nicht beherrschen. Es gibt Ihnen die Möglichkeit, Gefühle und Stimmungen auszudrücken, beispielsweise in Sequenzen eines Bewegungstheaters, dass mit wenig Sprache auskommt und sich zudem mit qualitativen Methoden gut beforschen lässt. Es geht aber auch um eigenes Profil bei Themen wie Inklusion, Radikalismus, Gewalt, Traumatisierung, Gender oder Alter.

Es geht also um eine Responsivität unseres Faches, wie beispielsweise Rudolf Stichweh sie beschreibt: Als eine Fähigkeit, dynamisch, aber aus eigenem Profil und mit eigener Kompetenz, auf Entwicklungen in der sozialen und natürlichen Umwelt wissenschaftliche Fragen zu stellen und Antworten zu finden. Es geht dabei auch, als eine Art Überlebensstrategie, immer auch ein Stück um das Aufzeigen von gesellschaftlicher Bedeutung eines kleinen Faches wie der Motologie.

Nur logisch ist dann aus der Genese des Faches, warum technisierende Ansätze an der Peripherie von Bewegung und Wahrnehmung wie „Human Enhancement“ nicht Forschungsschwerpunkt an sich, sondern vor allem kritischer Stellungnahme aus der Motologie, z.B. orientiert an geisteswissenschaftlichen Grundlagen, wie sie neuerdings im Begriff «Digital Humanities» gebündelt werden, bedürfen.

Was uns sicher helfen würde, sind natürlich Verbundforschungsprojekte, wie sie über die Kleine-Fächer-Initiative und das BMBF vor geraumer Zeit gefördert wurden. Wenn hier noch einmal investiert würde, wären wir sicher im Antragsverfahren mit von der Partie!

((c) Martin Vetter)

Martin Vetter hat seit 2023 eine Professur für Psychomotorik, Motologie und Bewegungspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg inne. Vorherige Stationen seiner Tätigkeit als Hochschulprofessur waren die Philipps-Universität Marburg, die Pädagogische Hochschule Schwyz, die Pädagogische Hochschule Zentralschweiz sowie die Hochschule für Heilpädagogik Zürich. Zu Professor Vetters Forschungsschwerpunkten zählen neben Psychomotorik und Motologie in Kontexten von Entwicklung, Bildung und Gesundheit unter anderem die Ermöglichung von Inklusion und Teilhabe sowie die Bewältigung von persönlichen Krisen durch bewegungsgetragene Angebote. Zudem beschäftigt er sich mit der Evaluation und Wirksamkeit von schulintegrierten oder schulnahen Unterstützungsangeboten. Professor Vetter ist Delegierter der Deutschen Gesellschaft für Psychomotorik DGfPM und ihrer Untersektionen im European Forum of Psychomotricity EFP, Mitherausgeber des European Psychomotricity Journal und Vorstandsmitglied der Wissenschaftlichen Vereinigung für Psychomotorik und Motologie WVPM.

Weitere Informationen: Prof. Dr. Martin Vetter | PH Ludwigsburg (ph-ludwigsburg.de)