Ura Qirqos, Ethio-SPaRe UM-27, Evangeliar aus dem 14. oder frühem 15. Jh., Ff. 6v-7r, Aufnahme 28. April 2010, (c) Ethio-SPaRe (Die Handschriftenbeschreibung von S. Ancel ist zugänglich unter https://betamasaheft.eu/manuscripts/ESum027/main)

1. Ihr Fach gehört zu den sogenannten kleinen Fächern. Bitte stellen Sie uns Ihr Fach in wenigen Sätzen vor.

Die Äthiopistik hatte ursprünglich eine historisch-philologische Ausrichtung und befasste sich vorwiegend mit den Sprachen und der Kultur des heutigen Äthiopiens und Eritreas. Der traditionell gewachsene Name des Fachs "Äthiopistik" bezieht sich auf die historische Region und ist keineswegs geografisch auf Äthiopien beschränkt, sondern schließt grundsätzlich immer auch eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Eritrea und darüber hinaus sogar das gesamte Horn Afrikas mit ein. Traditionell daher als eine Disziplin der Erforschung des Christlichen Orients und der Semitistik wahrgenommen, die sich vor allem in den biblischen, frühchristlichen und patristischen Studien manifestierte, muss die Äthiopistik zugleich als ein Teil der Afrikanistik verstanden werden, da Kultur und Schriftgut auch Afrika-spezifische oder Afrika-indigene Einflüsse aufweisen. Zu einem nicht unwesentlichen Teil und schon seit fast einem Millennium islamisiert, eignen sich Äthiopien und Eritrea außerdem für eine außergewöhnliche Fallstudie zur christlich-islamischen Koexistenz (und ebenso zu einer christlich-jüdischen Koexistenz, wenngleich die eigene Kultur der sogenannten "äthiopischen Juden" der äthiopisch/eritreisch-orthodoxen Tradition nahe steht). Akademisch heute entweder oft als Teil der Semitistik oder der Afrikanistik wahrgenommen, und tatsächlich mit diesen Disziplinen eng verbunden, ist die Äthiopistik zugleich doch ein inhaltlich von diesen verschiedenes und methodologisch breites, umfassendes Fach, wenn auch auf einem engeren geografischen Raum konzentriert. Im Blickfeld der Forschung stehen nicht nur die Sprachen und die Sprachwissenschaft, sondern die Äthiopistik befasst sich auch und zwar im engeren und eigentlichen Sinn mit der Geschichte, den Religionen und Kulturen Äthiopiens, Eritreas und weiterer Regionen am Horn von Afrika im stetigen unverzichtbaren Austausch mit verwandten Disziplinen und deren Methodologien (die gesamten Semitistik und Afrikanistik; Alte, Mittelalterliche und Moderne Geschichte; Geschichte der Spätantike, Archäologie und Epigrafik; Biblische, Christliche und Mittelalterliche Literaturen und Philologien Europas und des Nahen Ostens; Missionsgeschichte; Ethnologie und Ethnografie; Numismatik; Kunstgeschichte etc.), die ihrerseits eine lange und spezifische Forschungstradition aufweisen.

2. Welche Rahmenbedingungen an Ihrem Fachstandort wirken sich wesentlich auf Ihre Lehr- und Forschungspraxis aus? Wie beurteilen Sie diese?

Am Fachstandort Universität Hamburg ist die Äthiopistik in der Lehre (auf Bachelor- und Master-Ebenen) durch den Studiengang "Sprachen und Kulturen Afrikas" und seit 2017 auch durch den neu etablierten Master-Studiengang "Manuskriptkulturen" vertreten. Die Äthiopistik ist zudem ein anerkanntes Promotionsfach an der Fakultät für Geisteswissenschaften. Auf die Lehr- und Forschungspraxis wirken sich ganz wesentlich einerseits (von Vorteil) die ausgezeichnete Tradition der eng sprachwissenschaftlich orientierten Afrikanistik (d.h. die Sprachwissenschaft der afrikanischen Sprachen) aus, und andererseits (von Nachteil) das zu enge Spektrum derselben, die dem tieferen und breiteren kulturgeschichtlichen Ansatz der Äthiopistik als ein das gesamte Spektrum der Geisteswissenschaften umfassendes Fach, nicht gänzlich gerecht werden und angemessen begegnen kann, mit der allgegenwärtigen Gefahr, dass die Äthiopistik ausschließlich als Erforschung der Sprachen Äthiopiens und Eritreas betrachtet/angesehen wird. Eine solche Beurteilung des Fachs hätte zur Konsequenz, die einzigartigen und fachspezifischen Charakteristika der Äthiopistik mit ihren vielfältigen Zusammenhängen zu verkennen. In der Forschung hat die Äthiopistik mit der einzigen Professur in Deutschland an der Universität Hamburg in den letzten 50 Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen, wie die überaus erfolgreichen Forschungsergebnisse zeigen (mehrere erfolgreiche mittel- und langfristige Projekte, inklusive zwei ERC-Projekte und ein Projekt im Akademien-Programm mit einem Vorhaben bis 2040). Zentraler Schaffensort der äthiopistischen Tätigkeit ist das Hiob-Ludolf-Zentrum (HLZ) für Äthiopistik am Asien-Afrika-Institut (AAI), in dem sämtliche Räumlichkeiten der Projekte, Büros und die wertvolle Forschungsbibliothek angesiedelt sind. Das HLZ organisiert Vorträge von Gastwissenschaftler*innen aus aller Welt über aktuelle Themen der Forschung zum Horn von Afrika (finanziert durch Stiftungen wie die Alexander-von-Humboldt-Stiftung oder auch durch die DeutschÄthiopischeStiftung) und jährliche internationale Summer Schools für äthiopische und eritreische Handschriftenforschung (einige finanziert durch die Volkswagen-Stiftung). Das HLZ nimmt auch an Aktivitäten des Exzellenzclusters 2176 "Understanding Written Artefacts: Materiality, Interaction and Transmission in Manuscript Cultures", angesiedelt am Centre for the Study of Manuscript Cultures (CSMC), teil und beteiligt sich intensiv an verschiedensten transdisziplinären Forschungsarbeiten und Arbeitsgruppen. Die drei wichtigsten Bibliotheken (Bibliothek des HLZ, des AAI und des CMSCs, die alle fußläufig zu erreichen sind) sind hervorragend ausgestattet und bieten Zugang zu sämtlichen relevanten Publikationen auf dem Gebiet. Das HLZ ist die weltweit führende Einrichtung auf seinem Forschungsgebiet und betreibt langfristige Grundlagenforschung zum Horn von Afrika. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die Erforschung der äthiopischen und eritreischen Sprachen und Manuskriptkulturen, die Dokumentation und Analyse von Text- und Literaturüberlieferungen und die Herausgabe internationaler Peer-Review-Zeitschriften (Aethiopica: International Journal of Ethiopian and Eritrean Studies, eine Scopus-Zeitschrift; COMSt Bulletin) und monografischer Reihen (Aethiopistische Forschungen; Supplements to Aethiopica). Das äthiopistische Forschungsspektrum umfasst überdies weitere Themen, wie die Geschichte und die Formen der Sklaverei, die mündlichen Traditionen und die Entwicklung des amharischen Wortschatzes.

3. Was spricht Ihres Erachtens dafür oder dagegen, dass Ihr Fach in der Öffentlichkeit und innerhalb des deutschen Hochschulsystems angemessen wahrgenommen wird?

Dagegen spricht, dass die Äthiopistik ihr Potential als Fach, insbesondere in der Lehre, nur in wissenschaftlicher Gesellschaft mit anderen Disziplinen völlig ausschöpfen kann. Für eine optimale Entfaltung einhergehend mit einer angemessen bedeutsamen Außenwirkung braucht sie einen stetigen Austausch, gegenseitige Befruchtung, Kontextualisierung sowie schließlich eine breite methodologische Aufstellung in Wechselwirkung mit anderen Fächern. Eine isolierte Äthiopistik macht wenig Sinn. Dafür spricht, dass die Äthiopistik dank ihres breiten methodologischen Spektrums eine ganz bestimmte Flexibilität zeigt, und so mit verschiedenen Disziplinen hervorragend zusammenarbeiten kann und sich wunderbar integrieren lässt.

4. Haben Sie den Eindruck, dass die Vernetzung mit anderen Fächern einen Mehrwert für Ihr eigenes Fach bedeutet? Welche Kooperationsformen sind in diesem Zusammenhang für Sie interessant und mit Blick auf Ihren Fachgegenstand besonders geeignet?

Die Vernetzung mit anderen Fächern bis hin zur Internationalisierung des Fachs sind ganz elementare Bestandteile der Geschichte der modernen Äthiopistik wie sie an der Universität Hamburg existiert. Das moderne Fach selbst, einst wissenschaftlich in Deutschland in der zweiten Hälfte des 17. Jh. mit den Studien und Beiträgen des großen Hiob Ludolf (1624-1704) begründet, wurde in den letzten Jahrzehnten aus der konkreten Praxis der "International Conferences of Ethiopian Studies" (die erste 1959 in Rom, bis heute insgesamt 20 Konferenzen in Abständen von zwei oder drei Jahren weltweit abgehalten) geformt. Darüber hinaus wurde das Fach während der letzten 20 Jahre durch ein einmaliges Werk geprägt und bestimmt. Es handelt sich um die 5-bändige Encyclopaedia Aethiopica (2003-2014, hrsg. in Hamburg von einem internationalem Team, geleitet von Siegbert Uhlig und Alessandro Bausi, und einem internationalen Board mit ca. 600 Autoren): es gibt kein vergleichbares Werk und Forschungsunternehmen für afrikanische Länder, das alle Aspekte der Kultur und Geschichte einer so großen Region (Äthiopien und Eritrea) so tiefgehend und umfangreich betrachtet.

5. Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Fachs? Welche Entwicklungen und Herausforderungen zeichnen sich für Sie ab? Was wäre Ihres Erachtens für eine positive Entwicklung Ihres Fachs hilfreich?

Aufgrund der intensiven Erforschung zahlreicher kulturgeschichtlicher Aspekte der Region Nord-Ost-Afrikas, die zwischen dem afrikanischen Inland und dem Roten Meer angesiedelt und von langen historischen Beziehungen mit den mittelmeerräumigen Zivilisationen, den asiatischen Küsten und dem Nahen Osten geprägt ist (Äthiopien und Eritrea sind wichtige Regionen der alten und modernen semitischsprachigen und afroasiatischen Welt), dokumentiert die Äthiopistik nach wie vor das wissenschaftliche Potential, eine breite Palette an Forschungsthemen abzudecken und aus einer von Primärquellen geprägten Forschungsperspektive heraus bei der Erörterung allgemeiner Fragen einen Beitrag zu leisten, ausgerüstet mit einem ungewöhnlich reichem Spektrum an methodologischen und disziplinären Ansätzen. Insbesondere zum Verständnis des historischen Komplexität der Geschichte des Subsahara-Afrikas bereits seit der Antike (1. Jahrtausend v.Chr.) bietet die Äthiopistik als Erforschung der Kulturen Äthiopiens und Eritreas eine ungewöhnliche und unentbehrliche Perspektive, die die Wahrnehmung Afrikas als Kontinent der reinen Oralität herausfordert. Seit dem ersten Jahrtausend v.Chr. dokumentieren schriftliche Denkmäler, und eben nicht nur die Archäologie, dass Äthiopien und Eritrea Orte der Begegnung verschiedenster Völker, Kulturen und Sprachen waren. Ihre Geschichte ist lückenlos dokumentiert von der Antike bis zum Zeitalter des Globalen Südens. Sie sind Ausgangsort der ältesten christlichen und islamischen Zivilisationen in Subsahara-Afrika und Fundgrube für alte Geschichte und Legenden - von der Bundeslade und der Königin von Saba bis hin zum Priesterkönig Johannes und zur Hayla Sellase-Mythologie in der Rastafari-Bewegung. Damit sich das Potential der Äthiopistik gänzlich entfalten und somit einen wertvollen und mehr sichtbaren Beitrag für die Gesellschaft leisten kann, ist erforderlich, dass Universitätseinrichtungen, Politik und Wirtschaft sowie die Gesellschaft die Äthiopistik als kleines Fach konkret unterstützen. Auch sollten mehr Anstrengungen unternommen werden (und dies ist insbesondere an unser Fach selbst gerichtet), die Bedeutung der Äthiopistik für die Gesellschaft in allgemein zugänglichen Veranstaltungen (wie z. B. der Tag des Wissens) anschaulich zu vermitteln. Denn es ist doch gerade auch in ihrem Interesse, dass das Wissen und die Kompetenz für das Verständnis komplexer und vielschichtiger gesellschaftlicher und kultureller Fragen sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart erhalten, durch neue Erkenntnisse bereichert und vorangetrieben werden.

Alessandro Bausi (Photo Studioline Dammtor, Hamburg)

Alessandro Bausi besetzt seit 2009 die einzige Professur für Äthiopistik in Deutschland an der Universität Hamburg. Dort ist er zudem Direktor des Hiob Ludolf Center for Ethiopian and Eritrean Studies. Er widmet sich schwerpunktmäßig der Äthiopischen Sprache und Literatur. Weitere Informationen