Panorama der Hethiterhauptstadt Hattusa-Boğazköy (Zentraltürkei) (Quelle: Daniel Schwemer)

1. Ihr Fach gehört zu den sogenannten kleinen Fächern. Bitte stellen Sie uns Ihr Fach in wenigen Sätzen vor.

Die Altorientalistik, auch bekannt als Keilschriftforschung oder Assyriologie, erforscht die Kulturgeschichte Vorderasiens vom Ausgang des 4. Jt. v. Chr. bis um die Zeitenwende. In diese Epoche der Menschheitsgeschichte, die unter den Oberbegriff 'Alter Orient' zusammengefasst wird, fallen die Entstehung urbaner Komplexität im späten 4. Jt., eine erste Globalisierung politischer und ökonomischer Entwicklungen im 2. Jt. und die Expansion der ersten Weltreiche im 1. Jt. v. Chr. So unübersichtlich sich uns heute der geographische Raum zwischen Zypern und Iran, Türkei und Jemen politisch und kulturell darstellt, so vielgestaltig sind auch die Sprachen, Kulturen und Staaten des Altertums, auf deren Zeugnisse wir in den Flussoasen, Küstenregionen, Steppen- und Wüstengebieten, Hochländern und Gebirgen des Nahen Ostens stoßen. Das wichtigste kulturelle Bindeglied des Alten Orients über Regionen und Epochen hinweg ist die im späten 4. Jt. v. Chr. im heutigen Südirak (südliches Mesopotamien) entwickelte Keilschrift, die bis weit in das 1. Jt. v. Chr. hinein zur Verschriftlichung zahlreicher unterschiedlicher Sprachen verwendet, dann schließlich vergessen und erst vor 150 Jahren wieder entschlüsselt wurde. Entzifferung und Deutung der ständig wachsenden Zahl von keilschriftlichen Texten - typischerweise Tontafeln - sind die wichtigsten Aufgaben der Altorientalistik. Dabei beschäftigen sich Altorientalisten mit so unterschiedlichen Sprachen wie dem Sumerischen, das an keine andere bekannte Sprache angeschlossen werden kann, dem Akkadischen, das wie das Arabische zur semitischen Sprachfamilie gehört, und dem Hethitischen, der am frühesten bezeugten indogermanischen Sprache. Auch in Hinsicht auf die Textgattungen ist das keilschriftliche Textkorpus außerordentlich vielfältig und spiegelt nahezu alle gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche, vom Nomaden bis zur Stadt, von der Lohnliste bis zum Epos, von der Beschwörungskunst bis zur mathematischen Astronomie, vom Tempelkult bis zur philosophischen Reflexion der menschlichen Existenz.

2. Welche Rahmenbedingungen an Ihrem Fachstandort wirken sich wesentlich auf Ihre Lehr- und Forschungspraxis aus? Wie beurteilen Sie diese?

Im Kontext der heutigen Universität muss sich die Altorientalistik unterschiedlichen Anforderungen stellen. Seit jeher bildet das Fach gemeinsam mit Fächern ähnlichen Typs in kleinen Zahlen die nachwachsenden Generationen von Altertumswissenschaftlern im Rahmen von Studiengängen aus, die Forschung und Lehre unmittelbar miteinander verbinden. Es ist gelungen, diese Kernaufgabe des Fachs mit der stärkeren Verschulung des Studiums im Kontext der Bologna-Reform zu verbinden. Darüber hinaus gilt es, altorientalische Kulturgeschichte in fachübergreifenden Studiengängen mit größeren Studentenzahlen zu vermitteln (an der Universität Würzburg etwa der BA-Studiengang Alte Welt) und entsprechende Inhalte auch in Grundlagenveranstaltungen des Geschichtsstudiums einzubringen. Nicht zuletzt wendet sich die Altorientalistik in Vorträgen, Führungen, Workshops auch an die weitere Öffentlichkeit; Kooperationen mit Museen und Schulen zeigen immer wieder, dass der Alte Orient und seine Wiederentdeckung die Menschen faszinieren. Im internationalen Vergleich sind die finanziellen Rahmenbedingungen zur Erfüllung dieser Aufgaben in Forschung und Lehre an deutschen Universitäten wie der Würzburger derzeit günstig. Einerseits schützt die Verwendung von Kopfzahlen als einem der Parameter für die Mittelzuweisung Fächer wie die Altorientalistik, die immer nur kleine Studentengruppen ausbilden, vor berechtigten Ansprüchen der Massenfächer; andererseits bieten sich derzeit viele Möglichkeiten, die geringe Mittelzuweisung durch Forschungsstärke zu kompensieren.

3. Was spricht Ihres Erachtens dafür oder dagegen, dass Ihr Fach in der Öffentlichkeit und innerhalb des deutschen Hochschulsystems angemessen wahrgenommen wird?

Die Altorientalistik ist im deutschen Hochschulsystem mit über zehn Standorten relativ breit vertreten, auch wenn das Fach an einigen wenigen traditionsreichen deutschen Universitäten Streichungen zum Opfer gefallen ist. So ist der Alte Orient an vielen Universitäten mit philologisch-kulturwissenschaftlichen Schwerpunkten selbstverständlicher Teil des altertumswissenschaftlichen Diskurses. Eine weitergehende Konzentration altorientalistischer Standorte würde die Sichtbarkeit und vielfältige Einbindung des Fachs in unterschiedliche Forschungsaktivitäten der Altertums- und Kulturwissenschaften beschränken und sich auch negativ auf die Rekrutierung und Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses auswirken. Die öffentliche Wahrnehmung des Alten Orients als Teil der eigenen Geschichte ist eine Herausforderung, die auch das Fach Altorientalistik nicht ignorieren kann. Deutschland besitzt nur ein Museum mit einer umfassenden und im internationalen Vergleich bedeutenden Sammlung altorientalischer Objekte; nur wenige Staaten des Nahen Ostens haben sich als Ziele des Tourismus etabliert; die Lehrpläne des Geschichtsunterrichts ignorieren den Alten Orient weitgehend; die schwindende Kenntnis der biblischen Überlieferung verringert auch das Interesse an dem kulturgeschichtlichen Kontext, in dem die jüdischen und christlichen Traditionen entstanden sind. Trotzdem bieten sich jeweils vor Ort Lehrenden und Studierenden immer wieder Gelegenheiten, eine weitere Öffentlichkeit mit Aspekten des Alten Orients bekannt zu machen.

4. Haben Sie den Eindruck, dass die Vernetzung mit anderen Fächern einen Mehrwert für Ihr eigenes Fach bedeutet? Welche Kooperationsformen sind in diesem Zusammenhang für Sie interessant und mit Blick auf Ihren Fachgegenstand besonders geeignet?

Altorientalistik, ob in Studium oder Forschung, kann nur in Vernetzung mit anderen Fächern sinnvoll betrieben werden. Dies gilt einerseits für die unmittelbaren Nachbarfächer: Vorderasiatische und prähistorische Archäologie, Semitistik, Indogermanistik, Ägyptologie, Alttestamentliche Exegese, Alte Geschichte. Andererseits müssen Altorientalisten nicht zuletzt in der Forschung mit Disziplinen zusammenarbeiten, die ihnen helfen, die verschiedenen Aspekte altorientalischer Überlieferung angemessen zu deuten (etwa Religionswissenschaft, Ethnologie, Technik- und Wissenschaftsgeschichte). Schließlich ist die Dokumentation, Präsentation und Interpretation von Keilschrifttexten heute nicht mehr ohne die Verwendung digitaler Methoden denkbar. So arbeiten Altorientalisten regelmäßig und in unterschiedlichster Weise mit den Digitalen Geisteswissenschaften und der Informatik zusammen. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, dass das Fach Altorientalistik nur an Volluniversitäten angesiedelt ist, an denen zumindest einige der genannten Fächer vertreten sind. So ergeben sich durch die Organisation der Universität in inter- und multidisziplinären Studiengängen, Instituten und fakultätsübergreifenden Zentren entsprechende Vernetzungen. Zugleich sind für die Altorientalistik universitätsübergreifende Forschungsformate von besonderer Bedeutung, da in vielen Fällen die für eine Fragestellung relevante Expertise an der eigenen Institution nicht vollständig vertreten ist. Mit der notwendigen Spezialisierung der einzelnen Wissenschaftler wird auch die Zusammenarbeit mehrerer Altorientalisten an unterschiedlichen Universitäten weiter an Bedeutung gewinnen. Die Altorientalistik arbeitet auch mit dem außeruniversitären Forschungssektor eng zusammen. Im Gegensatz zu anderen Geisteswissenschaften verfügt die deutsche Altorientalistik jedoch nicht über eine entsprechend spezialisierte Forschungsinstitution im außeruniversitären Sektor. Hier könnten etwa im Bereich der Akademien gerade im Kontext der Digitalisierung verhältnismäßig kleine Investitionen erheblich zu einer nachhaltigen Verbesserung der Fachinfrastruktur beitragen.

5. Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Fachs? Welche Entwicklungen und Herausforderungen zeichnen sich für Sie ab? Was wäre Ihres Erachtens für eine positive Entwicklung Ihres Fachs hilfreich?

Die wohl größte Herausforderung für die Altorientalistik ist die dauerhafte politische Instabilität des heutigen Vorderasiens. Sie gefährdet den Erhalt des kulturellen Erbes des Alten Orients, beschränkt die Zugänglichkeit der Forschungsobjekte für die Wissenschaft, versperrt einer weiteren Öffentlichkeit das Bereisen der Kulturstätten. Der Nahe Osten als Kristallisationspunkt weltpolitischer Krisen verdeckt den Blick auf Vorderasien als Wiege unserer Kultur. Aufgabe der Altorientalistik ist es, in Forschung, Lehre und Öffentlichkeitsarbeit der einseitigen Wahrnehmung dieser Region der Welt entgegenzuwirken und gemeinsam mit anderen Fächern die historische Tiefe ihrer geopolitischen Strukturen freizulegen. Dabei spielt auch die kontinuierliche Zusammenarbeit mit Kollegen in Ländern wie der Türkei und dem Irak, die oft unter wesentlich ungünstigeren Bedingungen arbeiten müssen, eine wichtige Rolle. Das Gedeihen der Altorientalistik an deutschen Universitäten hängt wesentlich davon ab, wie es der jetzigen Generation von Fachvertretern gelingen wird, das Fach im Zusammenhang der Altertumswissenschaften am jeweiligen Standort dauerhaft zu vernetzen und durch Forschungsstärke auszuzeichnen. Das große Potential, das die Digitalisierung auch für die Keilschriftforschung bietet, wird sich nur in standortübergreifenden Kooperationen, die auch den außeruniversitären Sektor einbeziehen, nachhaltig und in vollem Umfang realisieren lassen.

Ausschnitt aus einem Keilschrifttext auf einer Tontafel des 1. Jt. v. Chr. aus Babylonien (südlicher Irak). Quelle: Daniel Schwemer

Daniel Schwemer ist seit 2011 Professor für Altorientalistik an der Universität Würzburg; zuvor war er an der School of Oriental and African Studies in London tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Akkadistik, Hethitologie und altorientalischen Religionsgeschichte. Seit 2016 leitet er das Langfristforschungsprojekt "Corpus der hethitischen Festrituale" an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Weitere Infos finden sich auf http://www.altorientalistik.uni-wuerzburg.de.