Am 26. Januar 2023 richteten die Arbeitsstelle Kleine Fächer und die Digitale Akademie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz die Tagung "Kleine Fächer: Dynamiken und Perspektiven im Hochschul- und Wissenschaftssystem" aus. Zum Abschluss des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekts "Die Dynamik kleiner Fächer" versammelten sich im Plenarsaal der Akademie der Wissenschaften und der Literatur rund 60 Akteur*innen aus Hochschulpolitik und -forschung, Forschungsförderung sowie Fachvertreter*innen der kleinen Fächer, um sich den Dynamiken zu widmen, die auf Wissenschaft und Disziplinen im Zuge verstärkter Differenzierungs- und Entdifferenzierungsprozesse einwirken. Unter anderem standen dabei folgende Fragen im Fokus:

- Welche Rolle kommt kleinen Fächern in interdisziplinären Forschungsverbünden zu?

- Welche Dynamiken ergeben sich hinsichtlich des Portals Kleine Fächer im Kontext von Informations- und Forschungsdateninfrastrukturen?

- Welche Dynamiken wirken bei der Gründung neuer Fachstandorte kleiner Fächer?

- Welche Dynamiken beeinflussen Standortschließungen kleiner Fächer?

Eröffnung der Tagung

In seinem Grußwort verwies der Generalsekretär der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz Prof. Dr. CLAUDIUS GEISLER auf die hohe Eignung der Akademie als Veranstaltungsort und führte dies insbesondere auf drei Gründe zurück: das Selbstverständnis der Akademie als Ort des Dialogs, die Nähe zum Akademieprogramm inklusive der großen Rolle der kleinen Fächer innerhalb des Programms sowie die langjährige Kooperation der Digitalen Akademie mit der Arbeitsstelle Kleine Fächer. Seinen Dank für diese Zusammenarbeit verband Prof. Geißler mit einer Aufforderung zu weiterer Zusammenarbeit und der Hoffnung auf neue Projektideen sowie einem Plädoyer für fortgesetzte Aufmerksamkeit für die kleinen Fächer.

Zu Beginn der sich anschließenden Einführung in das Tagungsprogramm stellte der Leiter der Arbeitsstelle Kleine Fächer Prof. Dr. UWE SCHMIDT die Arbeitsstelle in Kürze vor und erinnerte dabei an die Vorgängereinrichtung an der Universität Potsdam. Neben der auf Initiative des Rheinland-Pfälzischen Wissenschaftsministeriums grundfinanzierten Regelaufgabe der Kartierung kleiner Fächer habe die Arbeitsstelle mittels Förderung durch das BMBF in der Vergangenheit ein Forschungsprojekt zur Internationalisierung kleiner Fächer und nunmehr das Projekt "Die Dynamik kleiner Fächer" durchführen können. Zudem werde zeitgleich in Kooperation mit dem französischen Ministère de l'enseignement supérieur et de la recherche eine deutsch-französische Modellkartierung kleiner Fächer initiiert, wofür eine Förderung der VW-Stiftung bestehe. Die Forschungstätigkeit des im Zuge der Tagung präsentierten Projekts "Die Dynamik kleiner Fächer" reagiere auf disziplinäre Differenzierungs- und Entdifferenzierungsprozesse sowie auf das Clustering neuer Fächer als Folge unter anderem des Bologna-Prozesses und der zunehmenden Komplexität von Wissen und Wissensgebieten.

Interdisziplinarität und Forschungskreativität

Dr. ANNA FROESE (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) erläuterte in ihrer Keynote ihre Forschungsergebnisse zu Interdisziplinarität und Forschungskreativität. Als Beispiele für das hohe Innovationspotenzial von Interdisziplinarität benannte Anna Froese zu Beginn Forschungsaktivitäten der letzten Jahre in etwa Ökonomie, Neuroimmunologie oder auf dem Feld künstlicher Intelligenz. So entwickelten sich im Zuge interdisziplinärer Kooperationen neue Wissenschaftsfelder wie beispielsweise Synthetic Biology, Computational Social Sciences oder Cognitive Economics. Auch unter den seitens der Arbeitsstelle Kleine Fächer kartierten Disziplinen befänden sich Exempel für diese Genese im Wissenschaftsbetrieb wie Digital Humanities, Public Health oder Science and Technology Studies. Eine allgemein akzeptierte Definition von Interdisziplinarität habe sich allerdings bisher nicht etablieren können. Als adäquaten Definitionsversuch stellte die Referentin einen Ansatz der National Academies of Sciences aus dem Jahr 2005 zur Diskussion, wonach die Integration von Informationen, Perspektiven und Theorien aus mehreren Disziplinen oder Wissensgebieten im Dienst der Förderung eines grundlegenden Verständnisses oder der Problemlösung als konstitutive Merkmale von Interdisziplinarität anzusehen seien. Den Nachteilen interdisziplinär ausgerichteter Wissenschaft - als Beispiele seien geringere Publikations- und Finanzierungsmöglichkeiten oder die Verlängerung des Zeitraums bis zur Berufung auf eine Professur zu nennen - stehe als ein zentraler Vorteil der hohe Impact interdisziplinär generierter Forschung gegenüber: zwar publizierten interdisziplinär Forschende im Mittel weniger als monodisziplinär ausgerichtete Kolleg*innen, doch würden sie signifikant häufiger zitiert. Gestützt auf über 60 semistrukturierte Interviews an zwölf Universitäten und fünf außeruniversitären Forschungsinstituten in Deutschland, Israel und den USA (darunter Good-Practice-Beispiele wie das Koch Institute for Integrative Cancer Research am MIT, das Berkman Klein Center an der Havard University oder das Weizman Institute of Science) erarbeitete sie in ihrem Forschungsprojekt Handlungsempfehlungen für interdisziplinäre Forschung. Diese setzten sich unter anderem aus der Etablierung attraktiver Optionen für interdisziplinär fundierte wissenschaftliche Karrieren, der Schaffung von Freiräumen mittels Abbau disziplinärer Grenzen, interdisziplinären Sektionen in führenden Fachzeitschriften und einem Fokus auf interdisziplinäre Führungskompetenzen in Kooperationen zusammen. Interdisziplinäre Kompetenzen seien im Zuge dessen auf der Ebene von drei Dimensionen zu entwickeln: kognitive Kernkompetenzen (z.B. disziplinäre Expertise, Abstraktionsfähigkeit, kritisches Denken), personenbezogene Kernkompetenzen (z.B. Empathie, Neugier, Risikoaffinität) sowie soziale Kernkompetenzen (z.B. Kommunikationsfähigkeit, Kompromissbereitschaft, Teamorientierung). Aktuell sei jedoch bezüglich Interdisziplinaritätskompetenzen weder eine Systematisierung in der Fachliteratur erfolgt noch bestünden etablierte Vermittlungsangebote oder Trainings für Forschende. Basierend auf den Forschungsergebnissen sei im Projekt deshalb das sechsstufige Online-Seminar "Interdisciplinary Competences" als Angebot an interessierte Wissenschaftler*innen erarbeitet worden. Mittelfristig sei jedoch ein neues Modell des Wissenstransfers zu etablieren, das Disziplinen und Stakeholder mit ihren jeweiligen Problemlösungskompetenzen in innovativer Form, wie etwa in Interdisziplinarität-Labs, zusammenführe. Kleinen Fächern könne dabei eine zentrale Funktion im Innovationsprozess zukommen, da sie über ein hohes Kooperations- und Innovationspotenzial sowie Erfahrung in kollaborativer Wissenschaft verfügten und so als Initial für die Entstehung von Major-Breakthrough-Innovationen und als neue Felder der Interdisziplinarität fungieren könnten. In Reaktion auf die Keynote diskutierte das Tagungsplenum das Spannungsverhältnis von disziplinärer Fachkompetenz und institutionalisierten Karrierewegen, den Zwang zur Risikobereitschaft für interdisziplinär Forschende, die Notwendigkeit der Transformation von multidisziplinären Studiengängen in interdisziplinäre Modelle sowie Forderungen nach mehr Diversität, Raum für Nischen und Strukturen für Interdisziplinarität.

Die Rolle kleiner Fächer in interdisziplinären Forschungskooperationen

Dr. MORITZ WOLF (Arbeitsstelle Kleine Fächer) stellte in seinem Vortrag die Ergebnisse des Teilprojekts zur Rolle kleiner Fächer in interdisziplinären Forschungsverbünden vor. Er zeigte zunächst, dass die kleinen Fächer seit der Jahrtausendwende an zahlreichen von der DFG geförderten Forschungsverbünden beteiligt sind und in besonderem Maße an den Förderlinien der Exzellenzinitiative partizipierten. Ihre konkrete Rolle und Wirkung in diesen Verbünden sowie die Bedeutung der Projekte für die kleinen Fächer seien bislang jedoch nicht explizit untersucht worden. Auf der Grundlage quantitativer und qualitativer Befragungen von Wissenschaftler*innen kleiner und großer Fächer, die in interdisziplinären Sonderforschungsbereichen und Exzellenzclustern forschen, konnten folgende Ergebnisse festgehalten werden: Vertreter*innen kleiner Fächer übernehmen in den untersuchten Forschungsverbünden Verantwortung in wichtigen Rollen (Sprecher*in, Teilprojektleiter*in etc.). Sie seien intensiv mit einer Vielzahl von kleinen und großen Fächern vernetzt, in den Teilprojekten der Verbünde stark vertreten und würden von den anderen Wissenschaftler*innen im Projekt für ihre Methodik, Inhalte und Offenheit geschätzt. Auch die Vertreter*innen der kleinen Fächer fühlten sich in den Verbünden wertgeschätzt und gleichberechtigt und sähen einen wichtigen Beitrag ihres Faches für die Beantwortung der Forschungsfragen. Auffällig sei zudem die Bedeutung der Projekte für die kleinen Fächer. So hätten interdisziplinäre Kooperationen und Drittmittel für die kleinen Fächer eine signifikant höhere Bedeutung als für große Fächer. Auch die strukturellen Wirkungen der untersuchten Forschungsverbünde scheinen für kleine Fächer stärker zu sein als für große. So sei im Vergleich zu großen Fächern der Einfluss auf die Zukunft des Standorts, wie auch die Verbesserung der personellen Ausstattung größer und die Sichtbarkeit außerhalb der eigenen Universität stärker gestiegen. Die Gelingensbedingungen für interdisziplinäre Zusammenarbeit seien hingegen für Vertreter*innen kleiner und großer Fächer ähnlich. Nötig seien aus ihrer Sicht die Bereitschaft aller beteiligten Akteur*innen ausreichende Kommunikationsmöglichkeiten, gemeinsame Fragestellungen, Verständnis für andere fachliche Inhalte und Methoden sowie eine integrierende Funktion der Sprecher*innen. Negative Auswirkungen auf das disziplinäre Selbstverständnis und die Eigenständigkeit kleiner und großer Fächer hätten auf Basis der Befragungen nicht festgestellt werden können. In der sich anschließenden Diskussion wurden die Zurückhaltung kleiner Fächer im Kontext der Antragsstellung für Verbundprojekte, das Problem des Mangels an den kleinen Fächern zugehörigen Fachgutachter*innen im Prozess der Begutachtungen, die Einschätzung der Ergebnisse seitens der Hochschulleitungen sowie die Rolle der Methodenkompetenz innerhalb interdisziplinärer Kooperationen im Plenum erörtert.

Die Vorträge der Tagung in der Übersicht

Digitale Dynamiken - Das Portal Kleine Fächer als integriertes Informationssystem im Kontext von Forschungsdateninfrastrukturen

Mit der Feststellung, dass es sich bei der Kooperation zwischen der Digitalen Akademie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Arbeitsstelle Kleine Fächer selbst um ein interdisziplinäres Projekt handele, eröffnete Professor TORSTEN SCHRADE (Digitale Akademie) seinen Vortrag "Digitale Dynamiken - Das Portal Kleine Fächer als integriertes Informationssystem im Kontext von Forschungsdateninfrastrukturen". Ins Zentrum seiner Ausführungen stellte er dabei drei Fragen: Welche digitalen Ressourcen und Daten liegen im Portal Kleine Fächer vor? Wie können diese Ressourcen und Daten im Rahmen nationaler und internationaler Informations- und Dateninfrastrukturen genutzt werden? Welche Mehrwerte können sich für die Analyse der Entwicklung und die Kartierung Kleiner Fächer ergeben? Bei der Vorstellung der digitalen Ressourcen und Daten des Portals Kleine Fächer verwies der Referent beispielhaft auf die Taxonomie der Fächer selbst, die Geodaten der kartierten Fächer und die zeitlich-historische Struktur der kartierten Fächer sowie auf deren diverse Kombinationsmöglichkeiten untereinander. Dieses Material könne als Basis für zukünftige Forschungsfragen im Kontext der kleinen Fächer dienen. Als weitere konkrete Beispiele für die Relevanz und das Potenzial des Datenkorpus' nannte Torsten Schrade die Expert*innendatenbank als Grundalge für die Suche und Identifikation fachspezifischer Gutachter*innen und die Profile der registrierten Expert*innen als Fundus zur Analyse der Forschungstätigkeit der Wissenschaftler*innen. In der Addition der einzelnen Datenkategorien offeriere das Portal Kleine Fächer bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Volumen von über 100.000 mit ausdifferenzierten Forschungsinteressen korrespondierenden Datensätzen. Vielfältige Anschlusspotenziale zu den kartierten Daten böte die Nationale Forschungsdateninfrastruktur (NFDI), an deren Konsortien diverse kleine Fächer partizipierten. Im Sinne der systematischen Erschließung, Vernetzung sowie nachhaltigen und qualitativen Nutzbarkeit der in Deutschland generierten Datenbestände von Wissenschaft und Forschung sei auch eine Öffnung der Daten der Arbeitsstelle Kleine Fächer im Rahmen der NFDI sinnvoll. Ein solches Vorgehen entspräche auch der Bund-Länder-Vereinbarung aus dem Jahr 2018 zu Aufbau und Förderung einer nationalen Forschungsdateninfrastruktur, wonach Daten dergestalt verfügbar zu machen seien, dass sie für Dritte strukturiert auffindbar sowie über Datenbank- und Disziplinengrenzen hinweg analysiert und verknüpft werden könnten. Zu den konkreten Vernetzungsmöglichkeiten seien neben grundlegenden Wissenschaftsstrukturen wie etwa der Fachsystematik der DFG auch spezifische Angebote wie das Forschungsinformationssystem der Wissenschaftsakademien AGATE, NFDI4Culture (das Konsortium der nationalen Forschungsdateninfrastrukturen, das sich mit Forschungsdaten zu materiellen und immateriellen Kulturgütern befasst) oder der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek zu zählen. Ziel der Arbeitsstelle Kleine Fächer sollte in diesem Zusammenhang sein, Schnittstellen und Normdaten zu identifizieren, die es erlaubten, größere Datenbestände zu kreieren. Im Zuge dessen könnten beispielsweise auf Basis der vorhandenen Definitoren und des Systems der Arbeitsstelle Kleine Fächer nicht nur kleine Fächer, sondern weitere Fächerkategorien, Forschungsprojekte oder Institutionen kartiert werden. Als Maßstab bei all dessen hätten Auffindbarkeit, Zugänglichkeit, Interoperabilität und Nachnutzbarkeit der Daten zu gelten. Auf das in der Diskussion zum Vortrag formulierte latente Unbehagen bezüglich der auf solche Weise angesammelten und vorgehaltenen Datenmassen empfahl Torsten Schrade mit einer Strategie der Kuration und teilweisen Anonymisierung der Daten, der Schaffung ausdifferenzierter Abstufungen, einer der Sorgfalt verpflichteten Datenpflege sowie einer Kontinuität der Abwägung von Mehrwert und Transparenz zu reagieren.

Dynamiken der Gründung kleiner Fächer

Im Vortrag "Dynamiken der Gründung kleiner Fächer" stellte HANNES WEICHERT (Arbeitsstelle Kleine Fächer) ein Teilprojekt vor, das der Frage nach ausschlaggebenden Faktoren für die Einrichtung neuer Fächer mit dem Ziel nachgehen sollte, in Fachgründungen mündende Hintergründe und Entscheidungsprozesse auf organisationaler Ebene zu systematisieren. Als theoretische Grundlage diente dabei der systemtheoretische Zugang nach Talcott Parsons, auf dessen Basis ein Kategoriensystem entwickelt wurde. Unter "Fachgründung" wurde im Kontext der Untersuchung die Einrichtung der ersten Professur mit fachspezifischer Denomination an einem Universitätsstandort verstanden. In einem Mixed Methods Design wurde eine flächendeckende quantitative Online-Befragung der Fachvertreter*innen der sogenannten Jungen Fächer (Einrichtung der ersten Professur im Zeitraum der letzten 25 Jahre), die zugleich zum Untersuchungszeitpunkt als kleine Fächer kartiert worden sind, durchgeführt. Auf Basis der Ergebnisse der quantitativen Befragung wurden die drei Fächer Digital Humanities, Hebammenwissenschaft und Public History für qualitative, leitfadengestützte Interviews an acht Fachstandorten mit 24 Vertreter*innen aus Hochschulleitung, Dekans- bzw. Fachbereichsebene und Fächern ausgewählt. Die Integration der Ergebnisse von Online-Befragung und Interviews erlaubte mittels gegenüberstellender Schlussfolgerungen ein übergreifendes Verständnis für Hintergründe und Entscheidungsprozesse zu schaffen und so ausschlaggebende Faktoren für die Einrichtung neuer Fächer an deutschen Universitäten zu identifizieren. Ausgehend von Parsons' AGIL-Schema wurden hinsichtlich der Adaption fachbezogene Wissensressourcen sowie eine proaktiv gestaltende Rolle der beteiligten Akteur*innen aus Fach, Hochschuladministration und Politik als maßgebliche Faktoren festgestellt. Die Definition und Realisation kollektiv verbindlicher Ziele habe zum einen die hochschulstrategischen Zielsetzungen der Profilbildung bzw. -schärfung, die Etablierung eines Alleinstellungsmerkmals und eines neuen Lehrgebiets sowie einen Stellenzuwachs umfasst und sei zum anderen in Reaktion auf eine als außerordentlich hoch eingeschätzte wissenschaftliche und gesellschaftliche Relevanz des jeweiligen Fachs erfolgt. Für die Integration des Fachs innerhalb der Organisation seien die Institutionalisierung als Fachstudiengang und die Einbindung in interdisziplinäre Kooperationen in der Forschung als entscheidende Faktoren zu benennen. Voraussetzung der Integration sei zudem ein hohes Maß an informeller Kommunikation im Vorfeld der Fachgründung. Als latente Strukturen und konstitutive Merkmale des Systems hätten die Teilnehmer*innen der Online-Befragung und Interviewpartner*innen mehrheitlich ein hohes Quantum an inhaltlichen und methodischen Schnittstellen zu bereits am Fachstandort etablierten (anverwandten) Fächern sowie eine mittel- bis langfristig angestrebte Anerkennung der Eigenständigkeit des Fachs im Wissenschaftssystem angegeben. In den Interviews hätten die Hochschulakteur*innen zudem die Fachgründungen in die übergeordneten Kontexte von einerseits erkenntnisinteressengeleiteten Handelns und Reagierens auf kohärente Entwicklungen in der Wissenschaft sowie andererseits der Förderung von Interdisziplinarität und Brückendisziplinen mit Scharnierfunktion eingebettet. Aus dem Auditorium heraus wurden als Diskussionspunkte Differenzen der Untersuchungsergebnisse entlang der interviewten Statusgruppen, eine potenzielle Spezifikation der Ergebnisse durch eine Erweiterung der Stichprobe um Fächer aus den Ingenieur- und Naturwissenschaften sowie der Zusammenhang von Ressourcenzuwachs und Fachgründung erörtert.

Dynamiken der Standortschließungen kleiner Fächer

KATHARINA HAAS (Arbeitsstelle Kleine Fächer) stellte das Teilprojekt "Fachstandortabbau (kleiner) Fächer an staatlichen Universitäten" vor. Fachstandortabbau werde im Rahmen des Forschungsvorhabens skizziert als Ausdruck der Veränderung zweier sozialer Systeme: einerseits der Universität als Organisation des Hochschul- und Wissenschaftssystems und andererseits der Disziplin als primäre Einheit des Wissenschafts- und Hochschulsystems. Der Untersuchung liegen die Auswertung statistischer Daten für den Zeitraum 2014-2020 sowie 36 leitfadengestützte Interviews mit Hochschul- und Fachbereichsleitungen, (ehemaligen) Professor*innen der betroffenen Fächer an fünf Universitäten sowie Vertreter*innen der jeweiligen Fachgesellschaften zugrunde. Von Fachstandortschließungen waren im Untersuchungszeitraum ca. 22% der kleinen Fächer betroffen. Die statistischen Daten zeigten, dass ca. 40% der Professuren kleiner Fächer, die nicht wiederbesetzt werden, im Zusammenhang mit Fachstandortschließungen stünden. 84% der identifizierten Fachstandortschließungen gingen mit der Emeritierung des*der (ehemaligen) Stelleninhaber(s)*in einher. Fachstandortschließungen in Anbetracht eines Wechsels des*der das Fach vertretenden Professor(s)*in an eine andere Einrichtung seien im Untersuchungszeitraum seltener feststellbar. Die im Rahmen der Fallstudien vertiefend untersuchten Fälle von Fachstandortschließung wiesen eine große Variationsbreite mit Blick auf zeitliche Aspekte des Entscheidungsprozesses und die Umsetzung der Entscheidungen auf. Schnelle Entscheidungen und Umsetzungen erfolgten insbesondere im Kontext von Kürzungsdruck, teilweise gründeten Entscheidungsprozesse aber in über zehn Jahre zurückliegenden Strukturplanungen und -reformen. Entscheidung und Umsetzung beschäftigten teilweise jeweils mehrere aufeinanderfolgende Hochschul- und Fachbereichsleitungen. Im Rahmen der Gespräche mit den Leitungsakteur*innen habe sich gezeigt, dass Überlegungen zur Fachstandortschließung im Prozess immer wieder auch revidiert würden. Mit Blick auf die Rolle der beteiligten Akteur*innen sei zwischen Entscheidungen zur Fachstandortschließung im Kontext regulärer Strukturplanungen und Entscheidungen, die im Kontext von Kürzungsdruck getroffen würden, zu unterscheiden. Während im ersteren Fall in der Regel konsensuell gefällte Entscheidungen in Abstimmung zwischen dezentraler und zentraler Ebenen erfolgten und fachliche Veränderungen eher Bottom-Up initiiert würden, spielten Policy-Vorgaben "von oben" im Zusammenhang mit der Umsetzung von Kürzungsvorhaben an Universitäten eine größere Rolle. Gründe für die Fachstandortschließung seien in der Regel vielfältig und selten eindeutig zu bestimmen. Als Hauptfaktoren, die in mehr als 50% der Interviews mit Fachbereichs- und Hochschulleitungen vorkämen, könnten neben freiwerdenden Professuren, Kürzungsdruck und der strategischen Priorisierung anderer Fächer oder Fachgebiete eine geringe Studierendennachfrage, Leistungen des vormaligen Stelleninhabers bzw. der vormaligen Stelleninhaberin und wertbezogene Urteile mit Blick auf die Disziplin genannt werden. Zudem werde die fachliche Isolation und fehlende Vernetzung der Disziplin mit anderen Fächern am Fachstandort häufig und über alle Universitäten hinweg genannt. Ein weiterer oft benannter Faktor sei die Institutionalisierung der Disziplin an anderen Universitäten bzw. Hochschulen der Region. Der Hauptfokus der Leitungsakteur*innen liege auf der eigenen Einrichtung und weniger auf den Auswirkungen der Entscheidungen für die jeweilige Disziplin. Die Auswirkungen von Fachstandortschließungen für kleine Fächer würden von u.a. Vertreter*innen der Fachgesellschaften - insbesondere für Fächer, die deutschlandweit im Abbau begriffen oder sehr selten seien und deren Fachstandortabbau nicht andernorts durch den Aufbau neuer Fachstandorte kompensiert werde - als schwerwiegend beschrieben. Im Zentrum der Diskussion des Vortrags im Plenum standen die geringere Wahrscheinlichkeit von Fachstandortschließungen bei Integration der Fächer in interdisziplinäre Kontexte, das Bemühen um Projektförderung als potenzielle Strategie gegen Schließungen, potenzielle Unterschiede von Abbauprozessen isolierter Professuren gegenüber solchen, die im Kontext von Institutsschließungen vollzogen werden, sowie der Aspekt der Past-Performance.

Vortrag zu Dynamiken der Standortschließungen kleiner Fächer von Katharina Haas, Arbeitsstelle Kleine Fächer

Resümee

Zum Abschluss der Tagung resümierte Prof. Dr. UWE SCHMIDT (Arbeitsstelle Kleine Fächer), dass sich in den Vorträgen und Diskussionen als ein zentraler Topos der aktuellen Prozesse innerhalb des Wissenschaftssystems die Thematik einer manifesten Diversität an Formen der Differenzierung und Entdifferenzierung sowie Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung identifizieren lassen. Nicht zuletzt habe sich die hohe Bedeutung von Interdisziplinarität in etwa im Zuge von Exzellenzclustern und Sonderforschungsbereichen feststellen lassen. Die Position "zwischen den Welten" könne in diesen Kontexten von kleinen Fächern zum Beispiel mittels Schwerpunktsetzungen in Forschungsverbünden in hervorragender Weise eingenommen werden. Gleichzeitig sei zu fragen, inwieweit Interdisziplinarität, aus der neue Fächer entstünde, perspektivisch nicht grundlegend auf Disziplinarität verweise und insofern eine exzeptionelle Bedeutung für das Wissenschaftssystem aufweise. Die Projektergebnisse hätten auf eine Parallelität von sehr unterschiedlichen Handlungsweisen im Wissenschafts- und Universitätssystem hingewiesen. Als weitere zentrale Frage und zugleich Auftrag an die Arbeitsstelle Kleine Fächer ergebe sich die Notwendigkeit, den Blick für das Wissenschaftssystem zu öffnen, indem beispielsweise die organisationale Ebene stärker berücksichtigt und in die Kartierung Kleiner Fächer aufgenommen werde. Als besonderer Treiber der Entwicklung seien neue Ressourcen anzusehen, die innovative Denk- und Herangehensweisen erforderten, womit sich die Universitäten teilweise schwertäten. Nicht nur im Kontext kleiner Fächer, sondern auch in übergeordneten Zusammenhängen erschwerten die zum Teil starren Strukturen in deutschen Organisationen - im Gegensatz etwa zu den USA - die organisationale Profilbildung. Die Perspektive kleiner Fächer bleibe, wie sich vor allem im Kontext von Fachstandortschließungen zeige, bei all dem fragil. Uwe Schmidt schloss das Resümee mit einem Dank an das BMBF, den DLR-Projektträger und die Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz für die Förderung und die gute Zusammenarbeit.

Veranstaltungsmaterialien

Programm und Dokumentation

Download des Programms zur Tagung "Kleine Fächer - Dynamiken und Perspektiven im Hochschul- und Wissenschaftssystem"

Download der Dokumentation zur Tagung "Kleine Fächer - Dynamiken und Perspektiven im Hochschul- und Wissenschaftssystem"

Vorträge

Keynote: Interdisziplinarität und Forschungskreativität. Dr. Anna Froese. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Vortrag 1: Die Rolle kleiner Fächer in interdisziplinären Forschungskooperationen. Dr. Moritz Wolf, Arbeitsstelle Kleine Fächer.

Vortrag 2: Digitale Dynamiken - Das Portal Kleine Fächer als integriertes Informationssystem im Kontext von Forschungsdateninfrastrukturen. Prof. Torsten Schrade, Digitale Akademie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz.

Vortrag 3: Dynamiken der Gründung kleiner Fächer. Hannes Weichert, Arbeitsstelle Kleine Fächer.

Vortrag 4: Dynamiken der Standortschließungen kleiner Fächer. Katharina Haas, Arbeitsstelle Kleine Fächer.

Weiterführend

Erster Expert*innen-Workshop "Digitalisierung in Lehre und Forschung kleiner Fächer" im November 2020

Zweiter Expert*innen-Workshop "Kleine Fächer im Wettbewerb? Leistungsindikatoren zur Qualitätsmessung" im Mai 2021

Dritter Expert*innen-Workshop "Die Zukunft der disziplinären Ordnung der Wissenschaft aus Perspektive der kleinen Fächer" im Dezember 2021

Vierter Expert*innen-Workshop "Die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses in den kleinen Fächern - bestehende Strukturen und alternative Wege" im Juni 2022

Ergebnisbericht "Repräsentation kleiner Fächer als Promotionsfächer an staatlichen Universitäten in Deutschland", Mai 2022