(Quelle: Caterina Schürch)

1. Ihr Fach gehört zu den sogenannten kleinen Fächern. Bitte stellen Sie uns Ihr Fach in wenigen Sätzen vor.

Die Wissenschaftsgeschichte erforscht die Geschichte der Wissenschaften in ihrer ganzen Vielfalt. Sie überspannt den Zeitraum von der Frühantike bis ins 21. Jh., ist regional umfassend und interessiert sich für alle Formen wissenschaftlicher Tätigkeit. Dazu gehört die Entwicklung von Theorien, Praktiken und Argumenten, aber auch die soziale Organisation der Wissenschaften, ihre kulturelle Einbettung und ihre Wechselwirkung mit Politik, Ideologie und Gesellschaft.

Da das Fach in Deutschland meist nur mit einer Professur pro Standort vertreten ist, unterscheiden sich die Schwerpunkte in Lehre und Forschung erheblich. In München liegt ein wesentlicher Fokus auf der Geschichte der Biowissenschaften: von den Praktiken der Naturgeschichte im 18. Jh. bis zur Soziobiologiedebatte und den Anfängen der Genomforschung im späten 20. Jh. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf einer Geschichte der Ausdifferenzierung der Natur- und Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert sowie auf der Historisierung der Science Studies und der Philosophy of Biology.

2. Welche Rahmenbedingungen an Ihrem Fachstandort wirken sich wesentlich auf Ihre Lehr- und Forschungspraxis aus? Wie beurteilen Sie diese?

In München ist die Wissenschaftsgeschichte im Historischen Seminar angesiedelt, gemeinsam mit vielen anderen historischen Teilfächern, und auch das Lehrangebot ist zunächst Teil eines Studiums der Geschichte. Dadurch wird eine umfassende Ausbildung in historischer Methodik sichergestellt; zudem können Studierende das Fach unverbindlich kennenlernen, bevor sie sich für eine Spezialisierung entscheiden. Das ist v.a. deswegen wichtig, weil Studierende sich oft nur wenig unter einer "Geschichte der Wissenschaften" vorstellen können.

Die Ansiedlung des Faches in der Geschichte bedeutet aber auch, dass die früher selbstverständliche Nähe zu den Naturwissenschaften ein Stück weit verloren ging. So finden nur vergleichsweise wenige Studierende der Biologie, Physik, Mathematik etc. den Weg in unser Fach. Das ist ein Verlust, denn für viele Forschungsfragen ist die naturwissenschaftliche Kompetenz hilfreich oder sogar unabdingbar. Zudem ist es ein Anliegen unseres Faches, die Schnittstelle zwischen den Wissenschaftskulturen zu pflegen, und zwar sowohl in der Lehre als auch in der Forschung. Die institutionelle und räumliche Trennung der Geistes- und Naturwissenschaften sowie die geringe Flexibilität reformierter Studienordnungen machen dies zunehmend schwierig.

Generell bietet eine große, gut ausgestattete Universität wie in München für die Wissenschaftsgeschichte ideale Bedingungen. Die Bibliotheken sind hervorragend, die Archive reich gefüllt, die interdisziplinäre Vernetzung in Forschung und Lehre vielfältig. Das "Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte" fungiert als Dach für die vielen einschlägigen Lehrstühle und Institutionen vor Ort. Hervorzuheben ist darunter v.a. das Deutsche Museum, mit seiner einzigartigen Fülle gegenständlicher und archivalischer Quellen. Auch zur Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftssoziologie (bzw. "Science Studies") in München pflegen wir gute Beziehungen.

3. Was spricht Ihres Erachtens dafür oder dagegen, dass Ihr Fach in der Öffentlichkeit und innerhalb des deutschen Hochschulsystems angemessen wahrgenommen wird?

Die öffentliche Wahrnehmung unseres Fachs hat sich seit 1994 maßgeblich gewandelt: durch die Gründung eines Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, das national und international in höchstem Maße sichtbar ist. Seither wird nicht nur die Existenz des Faches, sondern auch seine Methoden, Kompetenzen, Thesen und Forschungen breit zur Kenntnis genommen. So ist heute weithin anerkannt, dass die Wissenschaften eine Geschichte haben, dass ihre Praktiken und Institutionen historisch bedingt sind, und dass die Akteure eingebettet in soziale, kulturelle und politische Kontexte agieren. Wissenschaftsgeschichte wird zudem (und mit gutem Recht) als Fach von hoher aktueller Bedeutung wahrgenommen, trägt sie doch wesentlich dazu bei, eines der wichtigsten Elemente moderner Gesellschaften besser verstehen und reflektieren zu können: Wissenschaft und Forschung. In Festreden, Feuilletons, Akademieprojekten und der Tagespresse schlägt sich all dies positiv nieder.

Doch übersetzt sich diese Wahrnehmung nicht in eine breite Verankerung des Fachs an deutschen Universitäten. Wissenschaftsgeschichte gehört auf die Rote Liste von Fächern mit Artenschutz: Von 28 Professuren im Jahr 1997 sank der Bestand auf nur mehr 17.5 Professuren im Jahr 2015. Kein anderes "kleines Fach" der Geschichtswissenschaften ist auch nur annähernd so stark geschrumpft. Die Gründe dafür sind vielfältig; zu einem allgemeinen Rückgang der universitären Grundausstattung kommt eine verschobene Wahrnehmung des Faches. So wird zunehmend geäußert, die relevanten Inhalte der Wissenschaftsgeschichte könnten von anderen Fächern mit abgedeckt werden, etwa von der allgemeinen Geschichte, den Kultur- und Medienwissenschaften, der Philosophie. Dies ist ein Irrtum. Wie jede Disziplin verfügt die Wissenschaftsgeschichte über spezifische Fach- und Methodenkompetenz, und ihr Gegenstand geht über eine Universitätsgeschichte oder eine allgemeine Geschichte des Wissens weit hinaus. Hierfür gilt es zu sensibilisieren, insbesondere mit Blick auf Berufungsverfahren, denn inzwischen ist jede einzelne Professur in Deutschland von höchster Bedeutung für das Fach.

4. Haben Sie den Eindruck, dass die Vernetzung mit anderen Fächern einen Mehrwert für Ihr eigenes Fach bedeutet? Welche Kooperationsformen sind in diesem Zusammenhang für Sie interessant und mit Blick auf Ihren Fachgegenstand besonders geeignet?

Für die Wissenschaftsgeschichte als kleines, aber sehr vielfältiges Fach ist der Austausch über die Grenzen der Disziplin entscheidend, sowohl innerhalb Deutschlands als auch international. Insbesondere die enge Zusammenarbeit mit anderen historischen Teilfächern ist von wechselseitigem Gewinn. Dies gilt für die Medizin- und Technikgeschichte, aber auch für epochal definierte Teilfächer wie die Zeitgeschichte oder die historischen Sach- und Regionaldisziplinen.

Gemeinsame Interessen teilt die Wissenschaftsgeschichte zudem mit anderen Feldern der Wissenschaftsforschung, etwa der Wissenschaftsphilosophie und -soziologie. Die unterschiedliche Methodik der Fächer macht es nicht einfach, diese Schnittstellen zu pflegen; wo es aber gelingt, ist das Ergebnis besonders befriedigend. Dies gilt auf ähnliche Weise für die Zusammenarbeit und den Austausch mit Einzeldisziplinen, insbesondere den Naturwissenschaften. Wie erwähnt, versteht sich die Wissenschaftsgeschichte als Brückenfach, das sich für den Dialog zwischen verschiedenen Wissenschaftskulturen einsetzt. Dies stößt auf großes Interesse, unter Forschenden wie auch Studierenden. Es wäre ein großer Gewinn, akademische Strukturen so zu flexibilisieren, dass dieser Austausch erleichtert wird: Lehrveranstaltungen sollten wechselseitig geöffnet und angerechnet werden, um Nebenfächer über Fakultätsgrenzen leichter zu integrieren und neu zu etablieren.

Die vielfältigen Möglichkeiten zur Kooperation bergen andererseits das Risiko, dass das Profil des Faches verschwimmt. Gerade breit angelegte Verbundprojekte setzen zuweilen voraus, dass kleine Fächer wie die Wissenschaftsgeschichte sich an die Methoden und Ziele der größeren Partner ohne weiteres anpassen. Wie viele andere kleine Fächer kann die Wissenschaftsgeschichte ihre Stärken am besten in Verbünden mittlerer Größe ausspielen, wo komplementäre Perspektiven gefragt sind und als solche auch integriert und anerkannt werden.

5. Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Fachs? Welche Entwicklungen und Herausforderungen zeichnen sich für Sie ab? Was wäre Ihres Erachtens für eine positive Entwicklung Ihres Fachs hilfreich?

Mit ihrer besonderen Kompetenz ist die Wissenschaftsgeschichte heute wichtiger denn je. Wissenschaft und Forschung sind Kernelemente moderner Wissensgesellschaften – ihre Verfasstheit und Entwicklung angemessen zu verstehen, ist damit Schlüsselkompetenz einer zeitgemäßen akademischen Bildung. Neuerdings kommt (paradoxerweise) als Herausforderung dazu, dass die Wissenschaften unter massivem Legitimationsdruck stehen – in den USA, zunehmend aber auch hier in Europa. Daten und Prognosen werden angezweifelt, der Stellenwert von Fakten steht zur Disposition, politisch unliebsame Fachbereiche werden gestrichen.

Die Wissenschaftsgeschichte vermittelt die Kompetenz, all dies einzuordnen und zu reflektieren. Ihre Perspektive umfasst die Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, geht über Europa und Nordamerika hinaus und nimmt die komplexe Dynamik von Wissenschaft in ihrer situativen Bedingtheit ernst. Unser Fach hilft zudem, den Blick zu schärfen: für die Unterschiede zwischen Befund und Vermutung, Theorie und Spekulation, Argument und Polemik; für die Mechanismen und Folgen der vielfältigen Verflechtung von Wissenschaft, Politik und Ökonomie; für die Stärken und die Schwächen wissenschaftlicher Forschung und ihrer Akteure.

An dringlichen Themen, denen sich die Wissenschaftsgeschichte in Zukunft widmen kann und sollte, mangelt es insofern nicht; und es mangelt auch nicht an Nachfrage. Unser Fach steht vor der Herausforderung, die steigende Zahl von erwünschten Kooperationen, Diskussionen, Lehrveranstaltungen, Kommentaren und Einführungswerken mit ihrem dünnen Personalbestand abzudecken. Um dies leisten zu können, braucht die Wissenschaftsgeschichte institutionellen Rückenwind – insbesondere eine breite Verankerung an Universitäten durch hochqualifiziert besetzte Lehrstühle.

Seit 2011 ist Kärin Nickelsen Professorin für Wissenschaftsgeschichte am Historischen Seminar der LMU München. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte der experimentellen Lebenswissenschaften im 19./20. Jhd., die Klassische Naturgeschichte um 1800, die Prozesse der wissenschaftlichen Modellbildung sowie individuelle und kollektive Forschungsmethodologie. Seit 2012 ist sie Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften (Leopoldina). Für weitere Informationen: https://www.gn.geschichte.uni-muenchen.de/personen/lehrstuhlinhaberin/kaerin_nickelsen/index.html