Foto: Paul Leclaire

1. Ihr Fach gehört zu den sogenannten kleinen Fächern. Bitte stellen Sie uns Ihr Fach in wenigen Sätzen vor.

Tanzwissenschaft beschäftigt sich mit Tanz als künstlerischem, rituellem, alltagskulturellem oder populärem Phänomen in seiner historischen, kulturellen und sozialen Entwicklung. Tanzwissenschaftliche Forschung berührt dabei auch Fragen nach sozialer Identität und Gemeinschaft, nach deren bildungswirksamen oder kunstphilosophischen Dimensionen. Institutionell betrachtet, handelt es sich in der Tat um ein dezidiert kleines Fach mit ca. sechs Professuren deutschlandweit und zwei eigenständigen Studiengängen auf MA-Ebene. Tanzwissenschaft ist - auch aufgrund ihrer kurzen Geschichte - zumeist interdisziplinär und im deutschsprachigen Raum eng an die Musik-, Theater- und Kunstwissenschaften angebunden. Als ein Gesellschaften-übergreifendes und in diversen Kontexten praktiziertes Phänomen ist Tanz auch das Forschungsinteresse u.a. von Soziologen, Anthropologen, Ethnologen, Pädagogen und Medizinern. Die institutionell verankerte deutschsprachige Tanzwissenschaft ist allerdings zumeist geisteswissenschaftlich fundiert. Sie entwirft sich als kritisch in dem Sinne, dass sie ihren Gegenstand als exemplarisch begreift, um Vorstellungen von einem statischen und kognitiven Wissenskonzept zu befragen und demgegenüber Formen des impliziten, körperlichen Wissens aufzuwerten. In enger Auseinandersetzung mit künstlerisch-forschenden Praktiken liegt ein Schwerpunkt auf dem Verhältnis von Theorie und Praxis und den daraus methodisch und epistemologisch resultierenden Fragestellungen. Fragen nach kulturellem Erbe werden ebenso virulent wie solche nach historischem Wissen verkörperter Praktiken und dessen Vermittlung. Bezogen auf die Beförderung eines differenzierteren Tanzverständnisses in Nicht-Fachpublikumskreisen geht es nach wie vor darum, weit verbreitete Mythen über den Tanz zu dekonstruieren - z.B. dass er 'sprachlos' sei und daher 'universell' verständlich. Tanzforschung kann aufzeigen, welche komplexen sozialen, künstlerischen, theoretischen oder vermittelnden Verfahren tänzerische Praktiken fundieren bzw. mit hervorbringen. Studierende, die sich für die Tanzwissenschaft interessieren, kommen aus unterschiedlichsten Disziplinen und streben neben vertiefenden Forschungskompetenzen in einer geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschungsbandbreite danach in diversen außer-akademischen Arbeitsbereichen wie Tanzdramaturgie, Kulturmanagement, Kuration u.a. tätig zu werden.

2. Bei der Tanzwissenschaft handelt es sich um ein relativ junges Fach. Bitte skizzieren Sie den Hintergrund der Etablierung des Fachs an Ihrer Hochschule oder deutschlandweit. Welche Unterschiede bestehen zwischen der Tanzwissenschaft an Hochschulen und Universitäten?

In Deutschland kann Tanzwissenschaft erst seit 2006 als eigenständiges Fach studiert werden; mittlerweile gibt es zwei MA-Studiengänge: an der Freien Universität in Berlin und an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln. Letztere ist auch der einzige Standort in Deutschland, an dem Tanzwissenschaft als eigenständiges Promotionsfach existiert. Im deutschsprachigen Raum bieten des Weiteren Studiengänge der Theater und Musikwissenschaft eine tanzwissenschaftliche Schwerpunktsetzung an (München, Salzburg, Gießen, Bochum, Bern). Gegenüber dieser vorrangig geisteswissenschaftlichen Ausrichtung ist das Fach international seit langem eng mit der praktischen Ausbildung von Tänzer*innen verzahnt. Bereits Ende der 1980er wurden in Großbritannien und Anfang der 1990er Jahre in den USA wissenschaftlich orientierte Studiengänge und PhD-Programme etabliert. Der dortige Einfluss kulturwissenschaftlicher Perspektiven auf die Erforschung von Tanz ist im deutschsprachigen Raum bisher weniger vertreten. Hier wurde die Tanzwissenschaft vor allem durch Perspektiven aus den Nachbardisziplinen Musik- und Theaterwissenschaft sowie durch philosophische und ästhetische Theorien geprägt. Die Kölner Tanzforschung setzt hier auf methodische und inhaltliche Breite. Die Differenzen der beiden Studiengänge in Deutschland lassen sich daher nur bedingt entlang der Trennung von Universität und Hochschule fassen, auch wenn in Köln die Nähe und Zusammenarbeit mit der praktischen Ausbildung von Tänzer*innen durchaus einen Schwerpunkt bildet. Die inhaltliche und vor allem institutionelle Profilierung in Köln ergibt sich u.a. aus der Anbindung an das Deutsche Tanzarchiv Köln und die umfassende fachliche Ausstattung, die drei tanzwissenschaftliche Professuren in einem Fachbereich vereint. Ein zentraler Bezugspunkt am Institut ist die Grundlagenforschung zur Methoden- und Theoriebildung einer praktisch-empirisch ausgerichteten Tanzwissenschaft. Zu den Methoden gehören u.a. historische, genealogische und kritische Quellenarbeit, gefördert durch die enge Anbindung an das Deutsche Tanzarchiv, ebenso wie Forschungskontexte/Schwerpunkte, die das "Performative der Tanzgeschichte" fundieren und vielseitig erschließen lassen. Praxeologische Forschungsmethoden, die sowohl klassische Formen der ethnographischen Forschung und Auswertung, aber auch Situationsanalyse und Verfahren des Artistic Research vermitteln, lassen sich hier mit zwei weiteren Schwerpunkten des Instituts verbinden: der Forschung zu Wissens- und Vermittlungskulturen im Tanz und der Auseinandersetzung mit Tanz im Kontext globaler Perspektiven. Studierenden wird so eine deutliche inhaltliche Freiheit gegeben. Der Fokus liegt darauf, sie zu befähigen, für ihre spezifischen Forschungsinteressen und Fragen unter Einbeziehung interdisziplinärer Perspektiven passgenau spezifische Methoden zu finden bzw. diese selbst zu entwickeln. Dabei wird die Grenzziehung zwischen Kunst und Vermittlung, Kunst und Wissenschaft, Tradition und Innovation kritisch verhandelt. Der praxisnahe tanzwissenschaftliche Ansatz in Köln verbindet sich mit einem Bewusstsein dafür, dass methodische, konzeptionelle und theoretische Fundierungen den 'Gegenstand Tanz' jeweils mit hervorbringen bzw. sinnvolle Einheiten der Wahrnehmung bereitstellen. Während diese Themen mittlerweile die Tanzwissenschaft deutschlandweit kennzeichnen, so lässt sich - wenn man denn nach Differenzen schaut - konstatieren, dass beispielsweise in Berlin der zeitgenössische Tanz stärker als Ausgangspunkt für eine Theoriebildung herangezogen wird. Hier gilt es vor allem aufzuzeigen, welche ästhetischen theoretischen Schnittstellen Tanz zu anderen Bereichen hat bzw. wie Tanz ein dafür prädestinierter Gegenstand und Ausgangspunkt der Reflexion zum Verhältnis von Sprache, Schrift und Bewegung, oder zu Mobilität und (politischer) Dynamiken fungieren kann.

3. Welche Rahmenbedingungen an Ihrem Fachstandort wirken sich wesentlich auf Ihre Lehr- und Forschungspraxis aus? Wie beurteilen Sie diese?

Am Zentrum für Zeitgenössischen Tanz (ZZT) der Hochschule für Musik und Tanz gibt es drei sehr vorteilhafte Rahmenbedingungen. Zunächst wäre hier sicherlich die Vielfalt der Perspektiven zu nennen, die sich aufgrund der Ressourcen von Professuren im Fach ergibt: Seit dem Wintersemester 2019 ist das ZZT die einzige Institution deutschlandweit, die drei tanzwissenschaftliche Professuren an einem Ort vereint (von insgesamt sechs Positionen in Deutschland). Damit kann eine große Bandbreite des Fachs abgedeckt und der fachliche Austausch vor Ort besonders intensiv und vielgestaltig geführt werden. Neben der historisch-ästhetischen Professur mit einem Schwerpunkt auf Historiographie und Choreographie gibt es eine Juniorprofessur für tänzerische Wissens- und Vermittlungskulturen sowie eine Professur für Tanz, Musik und Performance in globalen Kontexten. Hinzu kommen sehr günstige institutionelle Rahmenbedingungen: Dazu gehört das international renommierte Deutsche Tanzarchiv, das mittlerweile ein An-Institut der Hochschule ist. Dies ermöglicht eine dezidierte historische Forschung. Studierende werden in Zusammenarbeit mit dem Archiv frühzeitig an das historische Arbeiten herangeführt. Im Prozess der Herausgabe von Webbeiträgen, Editionen und Büchern werden Forschung und Lehre idealtypisch miteinander verschränkt. Kooperationsverträge gewährleisten dabei Studierenden und Forschenden privilegierte Zugangsmöglichkeiten. Das in Zusammenarbeit mit dem Tanzarchiv und der Hochschule gegründete Forschungskolleg Tanzwissenschaft dient dem wissenschaftlichen Austausch; es fördert durch Stipendien die Erforschung der Nachlässe des Archivs und zugleich eine gendertheoretische Perspektivierung des Materials. Die an der Hochschule vorliegende direkte Nähe der Tanzwissenschaft zur Praxis der tänzerischen Ausbildung sowie ein breites Spektrum von Kooperationen im Feld der zeitgenössischen Tanzszene ermöglichen die Erforschung künstlerischer Produktionsprozesse. Studierenden wird derart auch der Einstieg in mögliche künftige Berufsfelder wie u.a. Dramaturgie erleichtert. Hemmend für die Forschungspraxis an einer fachlich orientierten Hochschule ist, dass im Verhältnis von Musik und Tanz der Tanz immer das Partikulare bleibt und dass die Hochschule allgemein keine Forschungsförderung betreibt. Der Wert von Drittmitteln und Forschung muss hier tendenziell künstlerischen Kolleg*innen gegenüber immer wieder neu begründet werden, ebenso wie die Notwendigkeit von Freiräumen für Forschung.

4. Was spricht Ihres Erachtens dafür oder dagegen, dass Ihr Fach in der Öffentlichkeit und innerhalb des deutschen Hochschulsystems angemessen wahrgenommen wird?

Tanz erfährt zwar durchaus populäre Beliebtheit - als Beiwerk von Werbung oder Musikvideos oder auch als politisch bedeutsames Feld im Kontext kultureller Bildung insbesondere seit dem einflussreichen Film "Rhythm Is It!" (2004). Allerdings dominieren in den alltäglichen Diskursen weiterhin eine Mystifizierung des Tanzes als eine Praxis abseits von Sprache und Theorie, seine Banalisierung als Freizeitaktivität oder seine Ablehnung als - vor allem bezogen auf den zeitgenössischen Tanz - elitäre, unzugängliche Kunstform. Die Verfasserin dieses Textes ist immer wieder überrascht, dass etablierte Forschungskolleg*innen anderer Fächer auf wissenschaftlichen Konferenzen solche Einschätzungen verlauten lassen. Gleichzeitig hat in verschiedenen Kreisen die Tanzwissenschaft selbst ein enormes Interesse erfahren, denn seit Ende der 1990 Jahre waren zentrale bühnenkünstlerischen Entwicklungen und Theorien im Tanz für andere Fächer von hoher Relevanz: Themen von Körper und Bewegung sind interdisziplinär von Bedeutung. Konzepte wie das der "Choreographie" durchziehen heute Forschungen zu Raumplanung, Straßenführung, biologische Analysen ebenso wie Untersuchungen zu politischen Protestbewegungen. Hier bietet die Tanzwissenschaft dezidiertes Wissen um Verfahren und Techniken an, Körper und Bewegung zu beobachten, zu analysieren und im erweiterten Kontext zu verstehen. Das gilt auch für die Metaphern, die sich an ihnen anlagern. Bewegungskulturen in der Öffentlichkeit haben sich seit der Corona-Pandemie verstärkt verändert. Die Tanzwissenschaft kann hierfür Fragen nach den Körpernormen, den Verfahren der Hervorbringungen von Körpern, Gruppenkonstellationen und Dynamiken im Raum bereitstellen und kritisch perspektivieren.

5. Haben Sie den Eindruck, dass die Vernetzung mit anderen Fächern einen Mehrwert für Ihr eigenes Fach bedeutet? Welche Kooperationsformen sind in diesem Zusammenhang für Sie interessant und mit Blick auf Ihren Fachgegenstand besonders geeignet?

Da es Tanzwissenschaft erst seit kurzem gibt, ist sie sowohl pragmatisch als auch in der Überzeugung grundsätzlich interdisziplinär ausgelegt. Erst seit wenigen Absolvent*innengenerationen gibt es Tanzwissenschaftler*innen, die auch primär im Fach ausgebildet sind. Die meisten verfügen über eine wissenschaftliche Schulung in anderen Disziplinen. Welche interdisziplinären Kooperationen jeweils von Interesse sind, ist von der jeweiligen Fragestellung abhängig. Bei Fragen nach Artistic Research können andere Kunstwissenschaften zentral sein, bei der Forschung zu kultureller Bildung hingegen die Erziehungswissenschaften und die Sportwissenschaft oder bei Fragen zu motorischem Lernen solche zu neurowissenschaftlichen Forschungen.

6. Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Fachs? Welche Entwicklungen und Herausforderungen zeichnen sich für Sie ab? Was wäre Ihres Erachtens für eine positive Entwicklung Ihres Fachs hilfreich?

In Köln sehen wir der Entwicklung des Fachs mit zwei neu besetzten Professuren zum Wintersemester 2019 sehr positiv entgegen. Sie tragen vor allem der zunehmenden Globalisierung und der Vernetzung in das Feld der Vermittlung hinein Rechnung und fundieren diese Forschungsprozesse theoretisch und praktisch. Problematischer scheint, dass die Förderung des Tanzes in der Stadt selbst stagniert. Damit fehlt in dem möglichen, potenziell so gewinnbringenden Zusammenspiel von Tanzkunst -Tanzausbildung/Tanzvermittlung - Tanzforschung/Tanzarchiv das zentrale Element: der Untersuchungsgegenstand 'Tanz' und der Zielbereich sowohl für die praktische als auch theoretische Ausbildung. Wir fürchten zudem, dass im Zuge der Corona-Krise einmal mehr die Kürzungen im Bereich des Kulturellen als erstes den Tanz treffen werden. Fragen von nachhaltiger Tanzpraxis, kultureller Bildungsförderung, und einer maximal engen Vernetzung mit den unterschiedlichen Tanztraditionen in der Stadt werden es uns trotz alledem erlauben, die Bedeutung tanzwissenschaftlicher Forschung und Lehre deutlich zu machen.

Yvonne Hardt hat seit 2009 die Professur für Tanzwissenschaft und Choreografie an der Hochschule für Musik und Tanz Köln inne. Zuvor war sie Assistant Professor for Dance Studies an der University of California, Berkeley. In der Forschung liegt ihr Interesse insbesondere in der methodologischen Weiterentwicklung einer interdisziplinären Tanzwissenschaft und dem Thema Gender. Zuletzt leitet sie ein Forschungsprojekt zu kultureller Bildung im Tanz. In der Lehre entwickelt sie Formate an der Schnittstelle von Theorie und Praxis. Weitere Informationen