Supertrees im Gardens by the Bay, Singapur: Zwischen technologischer Ästhetik und urbaner Natur - ein ikonischer Ort, an dem sich Wissenschaft, Umweltgestaltung und öffentliche Imagination begegnen ((c) Ingmar Lippert, 2013)
Die Science and Technology Studies (STS) ergänzen das Wissenschaftssystem durch die Analyse der Beziehungen zwischen Wissenschaft, Technik und Gesellschaft. Mit dem Fokus auf dieses Beziehungsgeflecht grenzen sich die STS von hagiografischen Technikgeschichten, von philosophischen Analysen des Wissens und der Technik wie auch von sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ab, die Wissenschaft und Technik als gesellschaftsextern begreifen.
Bei der Untersuchung der Wechselwirkungen von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft beschäftigen sich die STS sowohl mit den gesellschaftlichen Auswirkungen von wissenschaftlichem Wissen und technischen Anwendungen – teilweise überlappend mit der Technikfolgenabschätzung – als auch mit den gesellschaftlichen Bedingungen und Praktiken der Konstituierung von Wissenschaft und Technik. Zur Analyse dieser gegenseitigen Formierungen nutzen die STS interdisziplinäre Zugänge, insbesondere aus der Soziologie, der Kulturanthropologie, der Geschichte und der Philosophie. Gleichzeitig diffundieren STS Konzepte regelmäßig in andere Disziplinen und außerwissenschaftliche Felder, wie etwa in die Kunst, in ko-kreative Technikentwicklungen, in Citizen-Science-Projekte oder in öffentliche Debatten – etwa zur Corona-Pandemie der frühen 2020er Jahre.
Ein klassisches Beispiel für die STS sind ethnografische Forschungen zu Alltagspraktiken in wissenschaftlichen Laboren oder in Konstruktionsprozessen von komplexen Technologien wie Robotern, Flugzeugen, sensorischen Umwelten, erneuerbaren Energieinfrastrukturen, mikrobiellen Biotechnologien oder KI-Systemen. STS untersuchen zudem den gesellschaftlichen Umgang mit Risikotechnologien und die Rolle von wissenschaftlicher Expertise (etwa in der Politikberatung) sowie andere situierte Wissensformen und -kulturen. Ebenso analysieren STS Beziehungen zwischen Dingen, Menschen und NaturenKulturen in mehr-als-menschlichen Umwelten – insbesondere in gesellschaftlich kritischen Kontexten und Diskursen wie Klimakrise oder Biodiversitätsverlust.
Die STS analysieren auch Publikations- und Datenpraktiken und gestalten diese mit. Aktivistische und kollaborative STS problematisieren oder intervenieren in koloniale Beziehungen, Umweltkonflikte, medizinische Felder und Software-Architekturen und verbinden sich mit kritischen, unter anderen auch feministischen und postkolonialen, Positionen. STS ist ein heterogenes Feld, in dem verschiedene Selbstverständnisse gepflegt und umkämpft werden. Insbesondere gibt es unterschiedliche Verständnisse von STS als Fach, als Forschungsfeld und als Bewegung.
Seit 2010 hat STS in Deutschland einen starken Aufschwung erfahren. Die STS bleiben jedoch institutionell gesehen vor allem ein internationales Forschungsfeld, stark europäisch und nord-amerikanisch geprägt, mit signifikanten Communities in Lateinamerika, Ostasien und dem australisch-pazifischen Raum. STS Afrika erscheint noch sehr marginal(isiert).
In Deutschland sind die STS heterogen verortet. Teils werden sie STS genannt, teils als Wissenschafts- und Technikforschung bezeichnet. Institutionalisiert sind STS über Lehrstühle oder Professuren, die meist eine Anbindung an eine klassische Disziplin aufweisen, wie etwa der Wissenschafts- und Techniksoziologie, Wissenschafts- und Technikgeschichte oder Technikanthropologie, oder über diverse Fachgesellschaften und deren Sektionen wie auch Netzwerke. Vereinzelt sind STS-Studiengänge zu finden; so gibt es beispielsweise spezifische Master-Studiengänge in Frankfurt am Main, an der Technischen Universität München und an der RWTH Aachen. Soziologie-Bachelorstudiengänge mit einem Schwerpunkt auf Technik werden an der RWTH Aachen und der TU Berlin angeboten, zudem gibt es einen Zertifikatsstudiengang an der BTU Cottbus-Senftenberg. Vielfach sind die STS in der Lehre in anderen Disziplinen in Form von einzelnen Veranstaltungen anzutreffen, wobei hier etwa die Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität in Berlin eine starke STS Tradition hat.
Ein Beispiel für eine interdisziplinäre Institutionalisierung als Fach bietet die Goethe-Universität Frankfurt. Dort gibt es einen englischsprachigen STS Masterstudiengang sowie ein seit 2023 bestehendes Graduiertenkolleg, die gemeinsam von der Kulturanthropologie und Europäischen Ethnologie, der Soziologie und der Humangeografie getragen werden. Ergänzt wird dies durch das Promotionsfach STS, das im Fachbereich Sprach- und Kulturwissenschaften angesiedelt ist.
An der Technischen Universität München wurde 2021 als Nachfolger des Munich Center for Technology in Society erstmals ein Department of Science, Technology and Society etabliert, an der rund 70 Forschende arbeiten. Es ist das derzeit größte Zentrum Deutschlands für STS Forschung und bietet neben zwei Master-Studiengängen auch ein Umfeld für Promovierende.
STS wird typischerweise auch am Rand spezifischer institutioneller Strukturen praktiziert. Vielfach sind es einzelne Wissenschaftler*innen innerhalb größerer sozial- und geisteswissenschaftlicher Institute oder Fakultäten, die STS Forschung betreiben. Hamburg ist hierfür ein Beispiel, unter anderem aufgrund einer Professur für Wissenschafts- und Innovationsforschung sowie einer Juniorprofessur mit Schwerpunkt Wissenschaftsforschung an der Universität Hamburg oder der Professur für Wissenschafts- und Technikkulturen an der HafenCity Universität – neben weiteren Forschenden, die sich nicht diesen spezifisch denominierten Professuren oder als STS bezeichneten Fachbereichen zuordnen. Laut dem Portal Kleine Fächer gibt es in Deutschland nur 22.5 Professuren, die sich mit STS identifizieren (Stand 2024). Gleichzeitig nehmen an nationalen und internationalen STS Konferenzen regelmäßig Hunderte Forschende aus Deutschland teil. Das zeigt: STS wird vor allem außerhalb dieser Professuren und oft in informellen oder projektbasierten Strukturen praktiziert.
Die internationale Community trifft sich seit 1976 konzentriert auf STS Konferenzen (die gemeinsamen Konferenzen der europäischen STS Gesellschaft EASST und der nordamerikanisch verorteten 4S zählen regelmäßig über 2000 Teilnehmende). Ein jüngeres Format ist der STS-Hub – eine Zusammenkunft von STS-Forscher*innen mit enger Anbindung an deutschsprachige Institutionen. Der erste STS-Hub fand 2023 statt; bereits zwei Jahre später zählte das Treffen über 800 Anmeldungen (Stand 2025). Dieses Format zeigt eindrucksvoll, wie groß und lebendig das Interesse an STS in Deutschland Mitte der 2020er Jahre ist – trotz der begrenzten Zahl fest institutionalisierter Professuren. Zudem gibt es in Deutschland mittlerweile mehrere fachliche Netzwerke oder Gesellschaften, die sich dediziert mit STS beschäftigen. Dazu zählen insbesondere die Gesellschaft für Wissenschafts- und Technikforschung (GWTF), stsing – Doing STS in and through Germany und für den Nachwuchs das Interdisciplinary Network for Studies Investigating Science and Technology (INSIST). [1]
Die Rahmenbedingungen, in denen STS betrieben wird, sind aufgrund der unterschiedlichen institutionellen Anbindungen daher äußerst unterschiedlich. Für Nachwuchswissenschaftler*innen wirken sich insbesondere fehlende institutionalisierte Stellen im Bereich STS auf ihre Lehr- und Forschungspraxis aus.
Ob STS angemessen wahrgenommen wird, ist nicht eindeutig zu beurteilen. Einige fordern eine stärkere institutionelle Verankerung und kritisieren die Dominanz etablierter Disziplinen sowie mangelndes wissenschaftspolitisches Interesse an STS Wissen zu den situierten Verschränkungen von Demokratie, Wissenschaft und Technik. Gleichzeitig sind STS Ansätze in Fächern wie Soziologie, Kulturanthropologie und Medienwissenschaften weit verbreitet. Dort wird STS rezipiert, auch wenn es nicht immer als eigenständiges Fach wahrgenommen wird.
Teilweise werden Reflexionsbewegungen der STS förderpolitisch institutionalisiert: In den Naturwissenschaften ist die Notwendigkeit, gesellschaftliche Implikationen von Wissenschafts- und Technikentwicklungen mit zu bedenken, oftmals eine Maßgabe der Förderpolitik (z.B. durch Ethische Erklärungen oder ELSI-Kriterien). Große technik- und naturwissenschaftliche Forschungsprojekte beziehen daher oft Begleitforschung zu ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen “Aspekten” bereits in Antragsverfahren mit ein.
Was die Öffentlichkeit anbelangt werden in der Exekutive und Administration der Bundesländer, der BRD und der EU regelmäßig klassische STS Belange zur Partizipation der Zivilgesellschaft in Wissenschaft und Technikentwicklung berücksichtigt. Das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag erstellt Studien, die teilweise den STS zugeordnet werden können.
Auch jenseits institutioneller politischer Kontexte registrieren wir in Deutschland vielfältige Rezeptionen von STS außerhalb der Wissenschaft – etwa in Kunstprojekten im Haus der Kulturen der Welt (Berlin) oder dem Zentrum für Künste und Medien (Karlsruhe) oder in öffentlichen Räumen der Wissensinszenierung wie Botanischen Gärten, die als Orte lebendiger Wissenschaftsvermittlung dienen. STS spezifische Analysepraktiken lassen sich aber auch in manchen Permakultur-Gärten, bei den Scientists for Future, in der Digitalindustrie oder in Unternehmensberatungen wiederfinden.
Die STS entstanden und florieren weiterhin in den Grenzgebieten zwischen verschiedenen kleinen und großen Fächern, teilweise in enger Vernetzung und Kollaboration, teilweise in Abgrenzung. Aber diese Beziehungsdynamiken laufen in der Forschungspraxis nicht entlang von fachlichen Grenzen, sondern konkreten Forschungsinteressen, -linien und -ansätzen. Wichtig sind klassischerweise und weiterhin Kollaborationen mit den Natur- und Technikwissenschaften (etwa in der Etablierung von Infrastrukturen für Nanowissenschaften oder in Co-Design Entwicklungen, innerhalb sowie außerhalb universitärer Strukturen) oder mit zivilgesellschaftlichen Organisationen (z.B. in der Frage der Endlagersuche für Atommüll). Vielfach sind auch Kooperationen in den Geistes- und Sozialwissenschaften, innerhalb und außerhalb der Universität, zu finden, etwa mit Stadt- oder Naturgeschichtlichen Museen.
Darüber hinaus wird kollaborative Praxis zunehmend als eine für die STS typische Forschungs- und Schreibpraxis gesehen. Dies gilt sowohl für die Arbeit von STS-Wissenschaftler*innen als auch in inter- und transdisziplinären Zusammenhängen.
Die Resonanz auf den STS-Hub und die wachsende Institutionalisierung mit INSIST und stsing zeigen: STS ist in Deutschland sehr lebendig. Seit den 2010er Jahren wird das Feld zunehmend sichtbar. Dies wird nicht nur an neuen Studiengängen, Promotionsfächern und Konferenzen deutlich, sondern auch an der wachsenden Zahl von Einführungsbänden und Handbüchern, die zur Kanonisierung beitragen. [2] Zudem werden Klassikertexte übersetzt, wodurch STS Konzepte, empirische Zugänge und Theorien leichter in die deutschsprachige Lehre und Forschung einfließen.
Diese zunehmende Popularität der STS steht selbst im Wechselspiel mit gesellschaftlichen Entwicklungen: Angesichts der KI-Verbreitung und biomedizinischer Entwicklungen sowie großer gesellschaftlicher Herausforderungen wie Klimawandel und die ökologischen Krisen wird es für immer mehr Forschungsdisziplinen zum Alltag, diejenigen soziomateriellen Verflechtungen in den Blick zu nehmen, die die STS seit Jahrzehnten interessieren. Damit liegt es auch nah, dass ihre Denkkulturen und heterogenen Konzepte mehr akademischen Anklang finden.
Trotz dieser Entwicklungen bleiben die STS ein kleines „Fach“, das vor der Herausforderung steht, die zunehmende Disziplinierung und die gewohnte interdisziplinäre Offenheit auszubalancieren. Einerseits braucht STS Forschung mehr Wahrnehmung von Drittmittelgebenden und nationalen Förderprogrammen, die in Deutschland vor allem disziplinär organisiert sind. Andererseits liegt die Stärke der STS gerade im Dazwischen: Dort, wo Disziplinen kollaborieren, neue Formen akademischer Zusammenarbeit entstehen und traditionelle Fachidentitäten in trans- und postdisziplinären Kontexten in den Hintergrund treten.
Wir hoffen, dass die STS nicht nur ein kritisches Reflexionsorgan in und für Gesellschaft bleiben, sondern auch mehr öffentliche Wahrnehmung gewinnen. Gerade angesichts der Zunahme rechter, populistischer und postfaktischer Politik braucht es Forschung, die die gesellschaftlichen Verflechtungen von Wissenschaft und technologischer Entwicklung konsequent reflektiert. Nicht umsonst haben sich die STS immer wieder in Auseinandersetzung mit aktivistischen Bewegungen und deren Analysen weiterentwickelt.
[1] Lippert, Ingmar, Julia Sascia Mewes, Paula Helm, Stefan Laser, Estrid Sørensen, und Laura Kocksch. 2021. “stsing. Doing STS in, through, and beyond the German Academic System.” Working paper, October 5. https://doi.org/gzpz
Mewes, Julie Sascia. 2019. “Report: ‘Stsing’ – Towards inclusive forms of STS-in-Germany.” EASST review 38(2): 35–37. Accessed on May 13, 2023. http://easst.net/article/report-stsing-towards-inclusive-forms-of-sts-in-germany/
Niewöhner, Jörg. 2018. “STS in Germany: Ve vill go on!” Accessed on April 10, 2025. https://www.dests.de/wp-content/uploads/2018/08/STS-in-Germany-%E2%80%93-Ve-vill-go-on.pdf.
Smolka, Mareike, Maximilian Braun, Carla Greubel, Philipp Neudert, Cindy Rentrop und Lisa Wiedemann. 2023. “Being, doing, and using STS in Germany? Reflections on identity questions, normative commitments, and conceptual work after STS-hub.de 2023.” EASST review 38(2):41–50. https://easst.net/easst-review/easst-review-volume-421-july-2023/being-doing-and-using-sts-in-germany-reflections-on-identity-questions-normative-commitments-and-conceptual-work-after-sts-hub-de-2023/.
[2] Lippert, Ingmar, ‘What versions of STS are we circulating? The Disciplining of Science and Technology Studies through German STS volumes’, Kapitel 5 in Lippert und Wiedemann (Hrsg), Proceedings of STS-hub.de 2023: Circulations, 35–43. publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/89696
Dr. Ingmar Lippert lehrt und forscht am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt. Er ist Mitherausgeber des Journals Science & Technology Studies und publizierte u.a. in Science as Culture, Big Data & Society und Leviathan. Seine ethnografische Forschung befasst sich mit Digitalisierung, Zahlenpraktiken, Methodenfragen sowie der Governance von Umwelt, Klima und Energie – insbesondere unter kapitalistischen Bedingungen. STS und Umweltmanagement studierte er in Lancaster, Freiburg und Cottbus; promoviert wurde er in Soziologie an der Universität Augsburg. Forschungsstationen führten ihn u.a. nach Singapur, Kopenhagen, Graz, Cottbus, Berlin und erneut nach Lancaster. Von 2010 bis in die frühen 2020er Jahre war er im Vorstand der EASST aktiv, hat stsing mitgegründet und das Programm- und Organisationskomitee des ersten STS-Hubs 2023 geleitet.
Dr. Lisa Wiedemann arbeitet als Postdoc an Professur für Soziologie unter besonderer Berücksichtigung der Mikrosoziologie an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Zuvor promovierte sie an der Professur für Wissenschafts- und Technikkulturen an der HafenCity Universität Hamburg. Ihre Forschung ist an der Schnittstelle von STS, feministischer Technikforschung, Soziologie des Körpers und empirischer Kulturwissenschaft angesiedelt. In ihrer Doktorarbeit erforschte sie ethnografisch Praktiken der digitalen Körpervermessung im Kontext von Typ-1-Diabetes und anderen alltäglichen Situationen. Das Postdoc-Projekt analysiert die materiell-semiotische Praktiken des alltäglichen Lebens mit angefochtenen Erkrankungen wie Long Covid und ME sowie deren Versuch der Infrastrukturierung im Digitalen.
Prof. Dr. Regula Valérie Burri ist Professorin für Wissenschafts- und Technikkulturen an der HafenCity Universität Hamburg. In ihrer Arbeit untersucht sie die sozialen, kulturellen und politischen Implikationen von Wissenschaft und Technik mit einem Fokus auf (visuelles) Wissen, Wissenschaft/Kunst Schnittstellen sowie Kulturen und Governance von Wissenschaft und Technik. Derzeit ist sie Associated Investigator am Cluster of Excellence “Matters of Activity. Image Space Material” der Humboldt Universität zu Berlin. Sie forschte unter anderem an der Harvard University, am MIT, an der ETH Zürich und an der TU Berlin und war Feodor Lynen Research Fellow der Alexander von Humboldt Foundation sowie Gastprofessorin an der Universität Wien. In der Schweiz war sie an der Gründung und dem Aufbau der Swiss Association for the Studies of Science, Technology, and Society (STS-CH) beteiligt und als deren Ko-Präsidentin aktiv.