Teil einer Kollage von Eva Filipski (Quelle: Eva Filipski)

1. Ihr Fach gehört zu den sogenannten kleinen Fächern. Bitte stellen Sie uns Ihr Fach in wenigen Sätzen vor.

Die Sprechwissenschaft befasst sich mit der Theorie und Praxis sprechsprachlicher Kommunikation und somit mit Phänomenen der Mündlichkeit und Stimmlichkeit. Mündlichkeit und Stimmlichkeit werden dabei in verschiedenen, miteinander integrierten Bereichen (Rhetorik, Sprechkunst, Klinische Sprechwissenschaft, Phonetik) untersucht und aus einer kommunikativen Perspektive untersucht. Die Sprechwissenschaft zeichnet sich durch eine spezifische Verbindung von Theorie und Praxis aus und arbeitet mit einem starken Praxisbegriff, sowohl in der Forschung als auch in der Lehre. Für die Forschung bedeutet dies zweierlei: Zum einen, dass im Fach die Aufmerksamkeit auf kommunikativen, mündlich-stimmlichen Praktiken liegt (womit spezifische methodologische Schwerpunktsetzungen einher gehen) und zum anderen, dass Forschungsergebnisse oft an die kommunikative Praxis rückgebunden werden. So weist eine Mehrzahl sprechwissenschaftlicher Forschungsarbeiten einen Anwendungsbezug auf. Für die Lehre zeigt sich die enge Verbindung von Theorie und Praxis darin, dass die Studierenden nicht nur theoretisches und methodisches Wissen erwerben, sondern auch ihre Eigenkompetenz in den Bereichen mündliche und stimmliche Kommunikation ausbilden und dies dann wiederum reflektieren. Eine Studentin sagte einmal, dass ihr an der Sprechwissenschaft so gut gefalle, dass wir uns immer die "Theorie einverleiben" würden. Die Kopplung von Theorie und Praxis zeigt sich auch in der Fachentwicklung von einer Sprecherziehung zu Beginn, über die Sprechkunde bis in die 1950er Jahre zur Sprechwissenschaft (als Fachwissenschaft zur Sprecherziehung), die die Entwicklung eines stark anwendungsorientierten Tätigkeitsfeldes hin zu einer wissenschaftlichen Disziplin beschreibt. Der Beginn des Fachs im engeren Sinne liegt um die Jahrhundertwende 19./20. Jahrhundert. Ein zentraler Ausgangspunkt dabei waren der Deutschunterricht und die Lehrer*innenausbildung. Die Deutschdidaktik ist bis heute ein wichtiger Bereich der Sprechwissenschaft. Auch wenn die Sprechwissenschaft als Fach noch relativ jung scheint, so knüpft sie doch zentral an die rhetorische Tradition der letzten 2500 Jahre an; hier weniger mit einem literaturwissenschaftlichen als einem kommunikationswissenschaftlichen und vor allem mündlichen Blick. Die Entwicklung des Fachs war nicht auf Deutschland beschränkt. Die Schwesterdisziplin der Sprechwissenschaft in den USA beispielsweise hatte zur gleichen Zeit eine ähnliche Ausgangsposition (über Speech and Voice zu Speech Communication) mit ähnlichem Fokus, wurde dann aber schnell deutlich größer und ausdifferenzierter und firmiert nun seit den 1990er Jahren unter dem Namen Communication Studies.

2. Welche Rahmenbedingungen an Ihrem Fachstandort wirken sich wesentlich auf Ihre Lehr- und Forschungspraxis aus? Wie beurteilen Sie diese?

Die Sprechwissenschaft ist an vier Universitäten und Hochschulen professoral vertreten: in Halle, Jena, Marburg und Stuttgart. In Jena und Marburg sind die Professuren jeweils am Institut für Germanistische Sprachwissenschaft angesiedelt, in Halle am Institut für Musik-, Medien- und Sprechwissenschaft. In Stuttgart ist die Professur für Sprechwissenschaft Teil des Instituts für Sprechkunst und Kommunikationspädagogik an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst. Neben diesen Standorten bestehen starke sprechwissenschaftliche Schwerpunkte an den Universitäten Aachen, Düsseldorf, Münster, Regensburg und Saarbrücken, dort sind sie aber nicht professoral verankert. In Marburg ist die Sprechwissenschaft eine Professur neben sieben anderen im Institut für Germanistische Sprachwissenschaft. Das Institut für Germanistische Sprachwissenschaft ist Heimat von insgesamt fünf kleinen Fächern und bildet zudem, gemeinsam mit dem Deutschen Sprachatlas, eine außerordentlich differenzierte und forschungsstarke Sprachwissenschaft. Die Sprechwissenschaft in Marburg verfügt über ein eigenes Masterprogramm gemeinsam mit der Phonetik, sowie über einen eigenen Schwerpunkt im BA-Programm "Sprache und Kommunikation". Zudem ist sie fest in die Lehrer*innenbildung im Lehramt Deutsch eingebunden. Forschungsverbindungen unterhält die Sprechwissenschaft innerhalb der Universität mit der Medizin, der Motologie/Sportsoziologie und der Soziologie und über die eigene Universität hinaus (neben Kolleg*innen aus der Sprechwissenschaft) mit Kolleg*innen aus der Rhetorik, den argumentation studies, den communication studies, der angewandten Sprachwissenschaft, der Psychologie und der Elementarpädagogik.

3. Was spricht Ihres Erachtens dafür oder dagegen, dass Ihr Fach in der Öffentlichkeit und innerhalb des deutschen Hochschulsystems angemessen wahrgenommen wird?

In der Öffentlichkeit wird das Fach über relevante Forschungsinhalte wahrgenommen: So hat ein Projekt zur Entwicklung argumentativer Fähigkeiten bei Kindern ein öffentliches Echo gefunden und findet es noch ebenso wie Arbeiten zur Kommunikation im Lehramt oder zu den Körperbildern in verschiedenen Stimmbildungsschulen. Für die öffentliche Wahrnehmung spielt dann aber die Relevanz der Forschungsarbeit, weniger die disziplinäre Verankerung eine Rolle. Nicht selten werden Sprechwissenschaftler*innen als Sprachwissenschaftler*innen benannt.

4. Haben Sie den Eindruck, dass die Vernetzung mit anderen Fächern einen Mehrwert für Ihr eigenes Fach bedeutet? Welche Kooperationsformen sind in diesem Zusammenhang für Sie interessant und mit Blick auf Ihren Fachgegenstand besonders geeignet?

Die Vernetzung bringt einen deutlichen Mehrwert, da die Sprechwissenschaft immer an Schnittstellen sitzt. Für die Sprechwissenschaft in Marburg ist dies z.B. die Kooperation mit Kolleg*innen in Rhetorik, Phonetik, Gesprächsforschung im In- und Ausland. Auch diese Fächer (oder Forschungsansätze) sind eher "klein", kennen somit die Bedingungen Kleiner Fächer. Dazu gehört, dass fachspezifische Konzepte, Terminologie etc. als solche behandelt werden und das kleine Fach Sprechwissenschaft in diesen Kooperationen nicht unter Rechtfertigungsdruck gerät. Letzteres kann durchaus zum Problem in der Kooperation mit größeren und zugleich nahen Fächern werden. Kooperationen, die besonders für die Sprechwissenschaft in Marburg gut funktionieren sind Kooperationen mit fachlich entfernteren Kolleg*innen (beispielsweise der Medizin) und mit internationalen Kolleg*innen. Es handelt sich hier dann um Forschungsgruppen, die Raum lassen für eigene Ansätze; nach innen "boundary objects" nutzen, d.h. konzeptionell und terminologisch nicht stärker vereinheitlicht sind, als für das Forschungsvorhaben notwendig ist, und nach außen die verschiedenen Zugriffe in der Erläuterung des Phänomens deutlich und produktiv macht.

5. Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Fachs? Welche Entwicklungen und Herausforderungen zeichnen sich für Sie ab? Was wäre Ihres Erachtens für eine positive Entwicklung Ihres Fachs hilfreich?

Die Zukunft sehe ich positiv, da wir auf eine einzigartige Art auf gesellschaftliche Herausforderungen antworten können: Die demokratische Gesellschaft als ein Ort des Miteinander-Sprechens. In diesem Zusammenhang sind die Entwicklung und Unterstützung der Argumentationsfähigkeit bei Kindern und Jugendlichen und die Bedeutung von Kommunikation in der Schule als fester Bestandteil der sprechwissenschaftlichen Arbeit im Lehramt zentrale Forschungsthemen. In diesen Bereichen hat die Sprechwissenschaft einen originellen Zugriff, da wir nicht nur den Blick auf die Theorie und Empirie haben, sondern Lehr- und Beteiligungskonzepte entwickeln und durchführen können. Eine Herausforderung ist immer, zu stark als Hilfswissenschaft bzw. Hilfsbereich gesehen zu werden. ("Ah, sie sind Sprecherzieherin." "Nein, ich bin Sprechwissenschaftlerin. Ja, ich könnte auch sprecherzieherisch arbeiten, wenn ich wollte."). Damit ist die Anwendungsorientierung Stärke und Schwäche zugleich. Um diese Sicht zu kontern wäre eine stärkere professorale Absicherung der jetzt schon starken Standorte wünschenswert. In Bezug auf Forschungsperspektiven wäre eine stärkere Transparenz in der Begutachtung von Projekten sinnvoll bzw. ein Eingehen auf die besonderen Bedingungen Kleiner Fächer. Dazu gehört, die Begriffe und Methoden eines Kleinen Fachs bestehen zu lassen, ohne sie aus größeren Fächern zu okkupieren ("Ah, interessantes Thema, aber warum machen Sie es nicht so, wie wir es machen?!").

Seit 2013 ist Kati Hannken-Illjes Professorin für Sprechwissenschaft an der Universität Marburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Erzähltheorie – insbesondere das Verhältnis von Argumentieren und Erzählen, Juristische Rhetorik, Ethnographische Methoden in der Argumentationsforschung, Kommunikative Kompetenz und die Verbindung von rhetorischen und künstlerischen Formen. Für weitere Informationen: https://www.uni-marburg.de/de/fb09/igs/arbeitsgruppen/sprechwissenschaft/prof-dr-kati-hannken-illjes