Die Semitistik überblickt in einzelsprachlicher und vergleichender Perspektive die ganze semitische Sprachfamilie, die von der Mitte des dritten Jahrtausends vor Christus bis zur Gegenwart im Nahen Osten sowie Nordafrika mitsamt Äthiopien bezeugt ist. Primäre Quellensprachen an der Universität Heidelberg sind Arabisch, Aramäisch und Hebräisch (Hochschule für Jüdische Studien, Theologische Fakultät). Abhängig vom Studiengang erlernen die Studierenden zwei oder drei dieser Sprachen in ihren klassischen, geschriebenen und modernen, gesprochenen Varianten. Hinzu kommt fakultativ das regelmässig angebotene Ge'ez (Altäthiopisch). Ausserdem gehören das im Rahmen der Assyriologie gelehrte Akkadische, moderne Sprachen Äthiopiens und Eritreas wie Amharisch oder Tigrinya an anderen Standorten (Hamburg, Berlin), und das namentlich an der Universität Jena erforschte Altsüdarabische zur semitischen Sprachfamilie.
Die Semitistik widmet sich ihrem Gegenstand primär mit sprachwissenschaftlichen und philologischen Methoden, bezieht aber als Kultur- und Regionalwissenschaft auch Literatur, Geschichte, und Religion in ihren Gesichtskreis ein.
An der Universität Heidelberg ist eine grosse Fülle altertums- und sprachwissenschaftlicher Fächer vertreten, die mit der Semitistik in enger Beziehung stehen. Diese Bandbreite von historisch, regional und methodisch benachbarten Disziplinen wirkt sich sehr positiv aus, besonders in der Lehre, weil es den Studierenden erlaubt, über den Rand des eigenen Fachgebiets zu schauen und zusätzliche Qualifikationen zu erwerben. Die Semitistik arbeitet im Arabischunterricht eng mit der Islamwissenschaft zusammen, und Hebräisch kann an der Hochschule für Jüdische Studien oder der Theologischen Fakultät erlernt werden. Umgekehrt nutzen Studierende der Theologie, der Germanistik und anderer Fächer das Angebot der Semitistik.
Besonders hervorzuheben ist das einmalige Engagement der Stiftung NISIBIN, die an der Abteilung Semitistik in Heidelberg über die Forschungsstelle für Aramäische Studien Qualifikationsstellen zu allen Aspekten des Aramäischen finanziert.
Die Betreuungssituation ist an semitistischen Instituten, und Heidelberg ist hier keine Ausnahme, aufgrund der kleineren Studierendenzahlen sehr gut. Lehrende und Studierende kennen sich und kommen leicht miteinander ins Gespräch.
Obwohl es grosse Sprechergruppen semitischer Sprachen aus dem Nahen Osten oder Äthiopien und Eritrea in Deutschland gibt, und durchaus ein verstärktes Interesse an arabischen Ländern oder Israel in der Gesellschaft vorhanden ist, wissen nur wenige Menschen, dass ein Fach Semitistik existiert. Die meisten können sich sehr wenig darunter vorstellen und assoziieren damit oft als erstes Antisemitismus, ein Kunstwort, das erst geprägt werden konnte, als es den rein linguistischen Begriff semitisch für eine Sprachfamilie bereits gab. Innerhalb des Faches gibt es daher aktuell die Diskussion, den traditionellen Namen Semitistik zur Verdeutlichung der Studieninhalte etwa in Semitische Sprachen und Kulturen abzuändern. Mediale Aufmerksamkeit für die semitischsprachigen Länder ist leider oft nur kurzfristig und an Krisen orientiert, die kulturellen Errungenschaften der Region und ihre reiche Geschichte werden kaum wahrgenommen.
Auch wenn semitistische Projekte oder Studienaufenthalte ausländischer Studierender von der DFG und anderen Förderinstitutionen finanziert werden, und es gerade in Deutschland eine lange erfolgreiche Tradition semitistischer Forschung gibt, so steht das Fach wie viele andere Geisteswissenschaften immer wieder unter Rechtfertigungsdruck: Was bringt die (linguistisch äusserst spannende!) Beschäftigung mit neuaramäischen Kleinstsprachen der Wirtschaft oder der Gesellschaft? Warum sind die Studierendenzahlen so klein? Die Vertrautheit mit semitischen Sprachen und ihren Kulturen stellen jedoch Kompetenzen dar, die auch für die Gegenwart und die heutige Gesellschaft mit ihren Problemen durchaus eine grosse Relevanz besitzen. Schliesslich sind auch Kleinstsprachen Teil des kulturellen Erbes der Menschheit.
Die Einbeziehung von Methoden und Erkenntnissen anderer Wissenschaftszweige wie Linguistik, Literatur- und Religionswissenschaft oder Geschichte ist für die Erforschung der semitischen Sprachen und Kulturen im Grunde unentbehrlich. Daher ist inter- bzw. transdisziplinäres Arbeiten in der Semitistik selbstverständlich. Dies gilt nicht nur für die Lehre, sondern auch für die Forschung. Gerade in methodischer Hinsicht zieht die Semitistik aus den Impulsen, die sie von anderen Fächern erhalten kann, grossen Nutzen. Aber auch Gebiete wie die Alte Geschichte, Judaistik oder die Allgemeine Sprachwissenschaft können von semitistischer Expertise im Gegenzug viel profitieren.
Insgesamt ist zu konstatieren, dass die Einzelforschung im Fach überwiegt, aber je nach Thema sind Forschungsverbünde innerhalb einer Akademie der Wissenschaft oder eines linguistischen Instituts hilfreich. Grossprojekte wie Wörterbücher oder komparative Überblickswerke können eigentlich nur in Kooperation mit mehreren Partnern oder in Langzeitprojekten erarbeitet werden.
Als erfolgreich und wissenschaftlich ergiebig haben sich zudem interdisziplinäre Tagungen erwiesen, die Fachleute der Semitistik und Allgemeinen Sprachwissenschaft oder Indogermanistik zusammenbringen. Auch zu einer semitischen Einzelsprache wie dem Aramäischen veranstaltet die Heidelberger Semitistik regelmässige Tagungen mit dem Ziel, internationale Expertinnen und Experten der verschiedenen, über fast drei Jahrtausende bezeugten aramäischen Varietäten miteinander ins Gespräch zu bringen, und so die Geschichte und Typologie dieser Sprache intensiv zu durchleuchten.
Insgesamt ist semitistische Forschung in Deutschland stark universitätsgebunden. Zu erwähnen sind aber die Akademien der Wissenschaften, bei denen immer wieder Projekte durchgeführt werden, die einen mehr oder weniger engen Bezug zur Semitistik aufweisen. Zu nennen sind etwa das Qumran-Wörterbuch der Göttinger Akademie, Beta masaheft – Manuscripts of Ethiopia and Eritrea bei der Hamburger Akademie, oder Bibliotheca Arabica – Neue Geschichte der arabischen Literatur der Sächsischen Akademie in Leipzig. Gegenüber der üblichen Einzelförderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft haben die Akademie-Projekte den Vorteil, langfristig angelegt zu sein. In diesem Zusammenhang kann auch das Deutsche Archäologische Institut erwähnt werden, das vor dem Kriegsausbruch im Jemen mehrere Jahre lang für die altsüdarabische Epigraphik ergiebige Grabungen durchgeführt hat. Nicht vergessen werden soll schliesslich auch die MENAdoc-Sammlung der Universitätsbibliothek Halle-Wittenberg, der Fachinformationsdienst Nahost-, Nordafrika- und Islamstudien, deren Bestände auch für die Semitistik eine grosse Bedeutung haben.
Abhängig vom Forschungsinteresse, beispielsweise für Epigraphik oder Handschriftenkunde, kann auch die Zusammenarbeit mit Museen, Archiven oder wissenschaftlichen Sammlungen, sowohl in Europa, als auch in den Herkunftsländern, wichtige Impulse geben. Im Rahmen des politisch und akademisch Möglichen bemüht sich die Semitistik um Kontakte und Kooperationen mit Institutionen im Nahen Osten und Nordafrika.
Die Semitistik ist wie andere Geisteswissenschaften mit niedrigen Studierendenzahlen konfrontiert, die wiederum den Rechtfertigungsdruck von Seiten der Universitätsleitungen und der Politik erhöhen. Der Erwerb von anspruchsvollen aussereuropäischen Sprachen stellt an die Studierenden hohe Anforderungen. Jede Professur, die frei wird, steht bis zu einem gewissen Grad zur Disposition. Für die Zukunft des Faches sind ihre Stellung innerhalb der eigenen Universität wichtig, nicht zuletzt aber auch die Fährnisse der internationalen politischen Entwicklung. Die zahlreichen Krisen und Kriege im Nahen Osten und Nordafrika in den vergangenen Jahren beeinträchtigen die Forschungstätigkeit in empfindlicher Weise, etwa in der Dialektologie oder der Epigraphik. Gleichzeitig beeinflussen diese Ereignisse die Wahrnehmung der semitischsprachigen Regionen in der Öffentlichkeit.
In fachlicher Hinsicht ist seit geraumer Zeit eine Ausdifferenzierung und Spezialisierung verstärkt wahrnehmbar. Das Material wächst in allen Sprachzweigen beständig weiter, was gleichermassen eine Bürde, aber auch eine Chance darstellt. Die fortschreitende Arbeit in Spezialgebieten führt dazu, dass sogar eine innerfachliche Diskussion auf Augenhöhe zunehmend schwieriger wird. Gleichzeitig ist dieser Reichtum an Themen und Ansätzen eine der grossen Stärken des Faches, welche die semitistische Forschung auch in Zukunft zu einem spannenden und fruchtbaren Gebiet machen wird. Die Dokumentation vom Aussterben bedrohter Sprachen und Dialekte ist ein wichtiger Zweig der Forschungstätigkeit geworden, gleichzeitig macht die Erforschung der klassischen Grosskorpus-Sprachen beachtliche Fortschritte. Seit einiger Zeit ist auch wieder die rekonstruierende, vergleichende Semitistik mit neueren Ansätzen und Vorschlägen hervorgetreten.
Für die Semitistik und benachbarte Disziplinen wäre es sicher förderlich, wenn ihre Sprachen und Kulturen in der gymnasialen Oberstufe thematisiert würden. Berichterstattung jenseits von Krise und Krieg über den Nahen Osten oder Nordafrika wäre zweifellos auch hilfreich. Das Fach Semitistik ist so gross und vielfältig, dass ausnahmslos alle Interessierten individuell ihre Themen und Gebiete finden, die sie besonders faszinieren.
Michael Waltisberg hat seit dem Jahr 2021 eine Professur für Semitistik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg inne. Zuvor war er an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der Philipps-Universität Marburg tätig, wo er von 2015 bis 2018 das DFG-Projekt „Untersuchungen zur Informationsstruktur des Syrischen“ leitete. Zu Professor Waltisbergs Forschungsschwerpunkten zählen neben der semitischen Sprachwissenschaft im Allgemeinen Didaktik, Syntax, Diskursgrammatik und Typologie der semitischen Sprachen sowie Wissenschaftsgeschichte. Seit 2023 fungiert Professor Waltisberg zudem als Fakultätskoordinator der Fakultät Kultur- und Sozialwissenschaften der Türkisch-Deutschen-Universität (TDU) Istanbul sowie als Vizepräsident im deutschen Konsortium der TDU. Weitere Informationen