Es würde hier den Rahmen sprengen, die Genese der Regionalgeschichte als eigenständigen Zweig der Geschichtswissenschaft in extenso auszubreiten. So sei es an dieser Stelle lediglich bei der Bemerkung belassen, dass die Regionalgeschichte - mit zeitlichem und auch thematisch nuanciertem Vorlauf in der DDR - in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren unter dem Eindruck eines Paradigmenwechsels hin zur Sozial-, Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte in Abgrenzung zur klassischen Landesgeschichte etabliert wurde und dass innerhalb der Regionalgeschichte im Kontext dieser Abgrenzung die als zu dominant empfundene mediävistische Betrachtung der Geschichte von Anfang an durch eine epochenübergreifenden Zugriff abgelöst war. Namen wie Ernst Hinrichs (1937-2009) oder Carl-Hans Hauptmeyer (* 1948) sind mit dieser geschichtswissenschaftlichen Innovation eng verbunden. Auch wenn der durch Verteilungskämpfe um akademische Ressourcen hervorgerufene, zeitweilig recht scharfe Antagonismus zwischen Landes- und Regionalgeschichte mittlerweile selbst schon wieder historisch geworden ist und sich die erhitzten Gemüter glücklicher Weise wieder weitgehend beruhigt haben, sollte man die Konvergenz von klassischer Landes- und moderner Regionalgeschichte grundsätzlich nicht überbetonen. Den Charme und den Vorteil der Regional- gegenüber der klassischen Landesgeschichte kann man darin sehen, dass sie per se an den Bedürfnissen und Gegebenheiten der europäischen Regionalität ausgerichtet ist und sich flexibel - anders als die klassische Landesgeschichte mit ihrer gewissermaßen starren Orientierung an Landesgrenzen - der Wandelbarkeit des Regionsbegriffs bedient, um sich und ihr Zielpublikum der Historizität der geographischen Dimension bewusst zu machen und gleichzeitig die Strukturbedingtheit dieser Historizität zu verdeutlichen. Manch einer oder eine mag dabei die weiche Bezugsgröße der Region als zu diffus und zu beliebig verteufeln; freilich besteht in der damit fast zwangsläufig verbundenen methodischen wie gedanklichen Offenheit eine große wissenschaftliche Erkenntnischance, weil sie eine vermeintliche Teleologie des Raums auflöst und das sog. mental mapping klar vor Augen führt: Ein Raum entsteht in den Köpfen der Menschen, ob nun in der historischen Vergangenheit oder bei der Erforschung derselben. Bestenfalls fallen die so konstruierten Räume kongruent aufeinander.
In ihrer innovativen Arbeit bedient die Regionalgeschichte - wie ihre "große Schwester", die vergleichende Landesgeschichte - die klassische Trias akademischer Missionen: 1. Forschung, 2. Lehre und 3. Transfer in die Gesellschaft. Die markante Verankerung regional- wie landeshistorischer Arbeit in der neudeutschen "Third Mission" unterscheidet sie erheblich von anderen historischen Teildisziplinen. Durch ihren regelmäßig epochenübergreifenden Ansatz begreift sie sich zudem zurecht als eine der letzten Vertreterinnen der Einheit des Faches Geschichte. Beides verspricht eine gute Entwicklung der Regionalgeschichte auch in der Zukunft.
In Schleswig-Holstein und ganz allgemein in Deutschland stoßen regionalgeschichtliche Themen auf einen ungemein großen Zuspruch eines alters- und interessensmäßig ganz breit aufgestellten Publikums, sodass unsere Veranstaltungen im Land und darüber hinaus stets einen beachtlichen Zulauf erfahren - übrigens vergleichsweise unabhängig vom epochalen Zuschnitt der Veranstaltungen. Dem positiven Interesse, das unsere vielseitige Arbeit erfährt, steht ein nur äußerst begrenzter Rahmen an Fördermöglichkeiten in Schleswig-Holstein im Weg. Schleswig-Holstein verfügt leider nicht über ein großes Stiftungsangebot; auch landesweite Förderprogramme, wie es sie z.B. in Niedersachsen in lobenswerter Weise gibt, sind bisher weitgehend Fehlanzeige. Die Zinsentwicklung hat unsere Möglichkeiten noch weiter eingeschränkt, da bisher verlässliche Förderer ganz ausfallen und Stiftungen buchstäblich nur noch auf dem Papier existieren. Es fehlt also an entscheidenden Fördermöglichkeiten im Land, und unsere Wege werden immer weitläufiger und aufwendiger, um an Fördermittel für unsere zahlreichen Projekte zu gelangen. Umso erfreulicher ist es, dass unsere Arbeit zumindest von der Universitätsleitung aufmerksam wahrgenommen und nachhaltig unterstützt wird, weil die Universität die besondere Rolle erkannt hat, die die Regionalgeschichte im und für das Land Schleswig-Holstein gerade im Rahmen der dritten akademischen Mission spielt. Was die Lehre und die Zusammenarbeit mit anderen Fächern an der Kieler Universität anbelangt, besteht ebenfalls kein Grund zur Klage. Auch hier gilt die für die Regionalgeschichte typische und von ihr postulierte Methoden- und Synthesenvielfalt. Die spezielle Rolle der Regionalgeschichte in der Lehre ist darin zu sehen, dass sie in Abwandlung des Fuhrmannschen Diktums: "Überall ist Mittelalter" stets "nah" ist und somit als optimales, da jederzeit und überall anrufbares Untersuchungs- und Anschauungsobjekt dienen kann, um Fachinhalte und berufsqualifizierende Kenntnisse zugleich zu vermitteln. Damit in Zusammenhang steht unsere, wie ich finde, erfolgreiche Bemühung um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Vermittlung gängigen "Schulwissens" und forschungsorientierter Lehre. Es geht darum, aus unseren zahlreichen Forschungsprojekten Impulse für beide Bereiche, Schulwissen und Forschungsorientierung, zu gewinnen.
Unsere Projektanträge bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft leiden immer wieder darunter, dass die Fachgremien an unseren räumlich beschränkten, aber transepochal und interdisziplinär angelegten Vorhaben vorbei aufgestellt sind. Somit fehlt es den betreffenden Gutachterinnen und Gutachtern regelmäßig an der entscheidenden Sensibilität für unsere Anliegen, sodass es schon einmal passieren kann, dass ich in einem Fachgutachten lesen muss, ich sei für die Kieler Universitätsgeschichte des 19. oder 20. Jahrhunderts kein einschlägiger Experte, da von Haus aus Mediävist, wiewohl sich doch meine Beschäftigung mit der schleswig-holsteinischen Regionalgeschichte auf ihre komplette Erstreckung unabhängig von Epochen bezieht. Das Epochen- oder Containerdenken solcher Gutachten ist absolut von gestern und verweist meines Erachtens nur auf einschlägig beschränkte Horizonte. In diesem Bereich fehlt es also bislang noch immer eindeutig an einer angemessenen Wahrnehmung unserer Arbeit. Im deutschen Hochschulsystem ist indes seit ein paar Jahren grundsätzlich ein Wandel in der Wahrnehmung von Regional- und Landesgeschichte zum Positiven hin erkennbar. Noch vor gar nicht langer Zeit schienen Regional- und Landesgeschichte düstere Zukunftschancen zu haben. Freiwerdende Professuren wurden herabgestuft, umgewidmet, nicht besetzt oder ganz gestrichen. Doch hat sich das Blatt mittlerweile spürbar und für viele überraschend gewendet, was nicht zuletzt die Stellensituation der letzten Jahre bezeugt. Um nur ein paar Beispiele hervorzuheben: Auf die freigewordene Freiburger, Tübinger und Trierer Landesgeschichte wurden zügig Nachfolger und Nachfolgerinnen berufen, die lange gefährdete landesgeschichtliche Professur in Stuttgart erlebte ihre Neubesetzung, in Heidelberg wurde eine neue Professur für Vergleichende Landesgeschichte in europäischer Perspektive kreiert, in Salzburg schuf man aus der angestammten Landesgeschichtsprofessur eine neue Professur für Europäische Regionalgeschichte. Erst jüngst wurden die Landesgeschichtsprofessuren in Mainz und Erlangen mit überaus kompetenten Inhabern besetzt. Gerade läuft das Berufungsverfahren für eine ganz neu geschaffene Professur für Regionalgeschichte in Rostock. Auch die Ausschreibung und Besetzung meiner Professur für Regionalgeschichte mit Schwerpunkt zur Geschichte Schleswig-Holsteins an der CAU zu Kiel fügt sich in diesen vergleichsweise positiven Gesamthorizont ein. Was steht dahinter? Einmal eine veränderte Sichtweise auf die Zusammenhänge der Globalisierung, die ohne den Blick auf den kleinen - wohlgemerkt nicht unbedeutenden - Raum nicht verstanden werden kann, und zum anderen und nochmals die besondere Funktion der Regionalgeschichte im Kontext der universitären Transferaufgaben.
Klassischerweise verstehen sich Landes- und Regionalgeschichte als interdisziplinär arbeitende Fächer. Dabei ist Interdisziplinarität recht eigentlich kein bloßer Mehrwert, sondern ein Muss für uns. Und das gilt für die Forschung ebenso wie für die Lehre. Eine ernstzunehmende regionalhistorische Forschung kann im modernen kulturhistorischen Verständnis nur interdisziplinär vernetzt denkbar sein. Diesem Bedürfnis unserer Arbeit und Grundanliegen unserer Erkenntnisinteressen stehen benachbarte Disziplinen wie die Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte, Kirchengeschichte oder Archäologie regelmäßig offen gegenüber. Wie könnten wir sonst in Kiel ein digitales Editionsprojekt zur Braunschweigischen Reimchronik, unser Großvorhaben eines Pommerschen Klosterbuchs, unser einschlägiges Transferprojekt zum Burgenland Waterkant und vieles andere mehr erfolgreich umsetzen? Die Kooperationen reichen von Forschungsanträgen zu gemeinsam entwickelten Projektideen - aktuell ist z.B. ein Vorhaben zur Erforschung der Schiffswracks im Wattenmeer hervorzuheben, das wir gemeinsam mit der Archäologie und Küstenforschung in Angriff nehmen möchten - bis hin zur Planung und Ausrichtung gemeinsamer Tagungen. Diese Optionen sind und bleiben für uns interessant, da sie Synergien hervorrufen und die eigene Arbeit durch wertvolle gedankliche Impulse von außen beleben.
Unsere regionalhistorische Arbeit im Land ist schon wegen der begrenzten eigenen Ressourcen in ganz erheblicher Weise auf Kooperationen mit außeruniversitären Einrichtungen in Schleswig-Holstein und - wenn man an die internationale Zusammenarbeit etwa im Rahmen unseres Pommerschen Klosterbuchs denkt - weit darüber hinaus angewiesen. Dabei reicht deren Spektrum von Vereinen über Archive und Bibliotheken, auch Museen oder Kommissionen bis hin zu speziellen Forschungseinrichtungen. Z.B. planen wir aktuell mit dem neuen landesgeschichtlichen Institut am Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie in Halle eine große Tagung der AG Landesgeschichte zum Thema "Heimatgeschichte". Ohne eine solche Unterstützung wäre es uns gar nicht möglich, so viele Konferenzen zu ganz unterschiedlichen Themen und an ganz verstreuten Orten durchzuführen. Ohne sie könnten wir nicht in der von uns praktizierten Dichte unsere Erkenntnisse und Denkanstöße aus dem "Elfenbeinturm" der Universität ins Land hinaus zu den Leuten vor Ort tragen, für die wir unsere Arbeit ja in ganz erheblichem Maß machen. Kurzum: Außeruniversitäre Einrichtungen sind für unsere Arbeit essentiell - und übrigens auch in der Geschichte des Faches mehr als elaboriert.
"In Grenzen unbegrenzt" zu forschen, ist nach Ludwig Petry (1908-1991) die große Stärke der historischen Landeskunde. In einer gewissen Modifizierung des Zitats kann man behaupten, dass die Regionalgeschichte in Heuristik und Interpretation auf eine unbegrenzte Synthesen- und Methodenvielfalt setzt. Die heutige Regionalgeschichte sieht sich dabei nicht, wie vielleicht noch die Landesgeschichte nach 1945, als methodische "Vorkämpferin" der Geschichtswissenschaft, sondern bekennt sich zu methodologischer Bescheidenheit und zu ihrer Existenz als historische Subdisziplin unter vielen. Mit diesen anderen Disziplinen möchte und muss sie kooperieren, wobei ihr eigener Vorteil eben im epochenübergreifenden Zugriff und in einem interdisziplinären, fröhlichen Methodeneklektizismus besteht. Das hat sie etwa mit der derzeit chicen Globalgeschichte gemeinsam, weswegen sich aus einer engeren Kooperation gerade von regional- und globalgeschichtlicher Perspektive vielerlei Befruchtungen erzielen lassen.
Derart wiederum - das zur stets gebotenen Rechtfertigung nach außen - kann und wird die Regionalgeschichte ihren wertvollen Beitrag zu einer regionalen Identitätsbildung an der zentralen Schnittstelle zwischen Öffentlichkeit und universitärer Geschichtswissenschaft leisten, wie sie auch durch ihre Fokussierung auf Regionen substantielle Erkenntnisse zum Verständnis der europäischen Geschichte beisteuern und das "Megathema" der Gestaltung des modernen Europas als einem Europa regionaler Vielfalt in zentraler Weise bespielen kann. Sie vermag eine aus der Region geschöpfte Identitätsbildung wissenschaftlich zu begleiten und zu moderieren.
Um sich dieser Herausforderung angemessen stellen zu können, ist es einerseits nötig, dass sich die verschiedenen landes- und regionalhistorischen Lehrstühle deutschlandweit stark vernetzen, wie es im Rahmen der beim Verband der deutschen Historiker und Historikerinnen angesiedelten AG Landesgeschichte, als deren Sprecher ist derzeit fungiere, schon praktiziert wird, und dass länderübergreifende bzw. deutschlandweite - auch europäische - Fördermöglichkeiten geschaffen oder weiter ausgebaut werden, damit sich in deren Förderungsangebot auch unsere Fragen und Anliegen wiederfinden.
Professor Oliver Auge lehrt seit 2009 Regionalgeschichte mit Schwerpunkt zur Geschichte Schleswig-Holsteins in Mittelalter und Früher Neuzeit an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Der Fokus seiner Forschung und Lehre liegt darüber hinaus auf Adels-, Kirchen-, Stadt- und Universitätsgeschichte. Aktuell fungiert Professor Auge als Chefherausgeber des Jahrbuchs für Regionalgeschichte und zudem als Sprecher der AG Landesgeschichte im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD). Weitere Informationen