Museon-Park in Moskau (Foto: Karsten Packeiser www.rhein-wolga.info)

1. Ihr Fach gehört zu den sogenannten kleinen Fächern. Bitte stellen Sie uns Ihr Fach in wenigen Sätzen vor.

Innerhalb der Geschichtswissenschaft ist die Osteuropageschichte wohl die erste regionale Unterdisziplin, die sich in Deutschland herausgebildet hat. Bereits 1892 bzw. 1902 wurde an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin (heute Humboldt Universität) der erste (außerordentliche) Lehrstuhl für die Geschichte Osteuropas gegründet. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte das Fach dann zu seiner vollen Blüte, wurde aber angesichts des Kalten Kriegs zuweilen auch als "Feindstudien" abqualifiziert.

Immer wieder wird im Fach debattiert, was "Osteuropageschichte" eigentlich bezeichnet. Der Begriff "Osteuropa" ist heute umstritten, da er die Einheitlichkeit eines historischen Raums suggeriert, die nicht gegeben ist, weshalb korrekter Weise vom "östlichen Europa" zu sprechen ist. Traditionell wurden vier Charakteristika geltend gemacht, die auf die Regionen von Polen bis Sibirien, vom Baltikum bis zum Balkan in sehr unterschiedlichem Maße zutreffen: (1) sprachlich/ethnisch: die slawischen Ethnien und Sprachen, (2) religiös: der christlich-orthodoxe Glaube, (3) wirtschaftlich: die bis ins 20. Jahrhundert vorherrschende agrarische Prägung, (4) politisch/historisch: die Autokratie bzw. der Staatssozialismus.

Tatsächlich verbarg und verbirgt sich hinter "Osteuropäischer Geschichte" oft russische oder sowjetische Geschichte. Entsprechend wurden nach dem Zusammenbruch der UdSSR einige Professuren in der irrigen Annahme gestrichen, es werde weniger Expertise über das östliche Europa gebraucht. Heute gibt es 53 Osteuropageschichtsprofessuren im deutschsprachigen Raum. Theoretisch decken sie einen Zeitraum seit der Kiewer Rus bis heute ab, haben aber meist einen Schwerpunkt im 19. und 20. Jahrhundert; Lehrstühle, die sich auf das Mittelalter oder die Frühe Neuzeit konzentrieren, gibt es kaum noch. Ebenso dominiert weiterhin die russisch-sowjetische Geschichte. Professuren, die sich auf Ostmittel- oder Südosteuropäische Geschichte konzentrieren, befinden sich im einstelligen Bereich.

2. Welche Rahmenbedingungen an Ihrem Fachstandort wirken sich wesentlich auf Ihre Lehr- und Forschungspraxis aus? Wie beurteilen Sie diese?

Entscheidend für unser Fach sind Sprachkenntnisse. Ohne die entsprechenden slawischen Sprachen lässt sich unser Fach nicht studieren. Da eine Slawine nicht wie Englisch oder Französisch nebenbei erlernt werden kann, sondern sehr viele Unterrichtsstunden über viele Semester erfordert, lebt die Osteuropageschichte eigentlich in einer Symbiose mit der Slawistik. Meist gibt es nur da, wo auch die Slawistik etabliert ist, ausreichende Sprachangebote, und oft studieren diejenigen, die sich auf Osteuropäische Geschichte spezialisieren, auch Slawistik.

Zwei Entwicklungen haben diese fruchtbare Beziehungen in den letzten zwei Jahrzehnten nachhaltig untergraben: zum einen die Tendenz, auch Slawistik-Institute zu schließen oder aber beide zu trennen, indem diese an dem einem Ort, die Osteuropageschichte aber an einem anderen Ort konzentriert wird; zum anderen die Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge. Eine Slawine lässt sich nicht in drei BA-Studienjahren erlernen; mit Glück, Ausdauer und entsprechenden Auslandsaufenthalten gelingt dies bis zum Ende eines MA-Abschlusses. Das bedeutet aber für die Studierenden, dass sie extrem langfristig planen und sehr frustrationstolerant sein müssen, da sich der Erfolg erst nach ihrem ersten Studienabschluss einstellen wird. In der heutigen schnelllebigen Zeit, in der sich ständig die verfügbaren MA-Abschlüsse ändern und neue Perspektiven auftun, ist ein langfristiges Engagement im Sprachstudium zur echten Herausforderung geworden. Noch gibt es keine Daten dazu, aber die Anzahl der Studierenden, die bereit sind, z.B. Russisch zu lernen und sich damit auf Osteuropäische Geschichte zu spezialisieren, ist bereits spürbar gesunken.

3. Was spricht Ihres Erachtens dafür oder dagegen, dass Ihr Fach in der Öffentlichkeit und innerhalb des deutschen Hochschulsystems angemessen wahrgenommen wird?

Unser Fach unterliegt einer starken politischen Konjunktur bzw. kommt immer in dem Maße in die Schlagzeilen, wie in Russland (seltener Polen oder Tschechien) ein Politiker wie Michail Gorbatschow positiv oder wie Wladimir Putin negativ von sich reden macht. So günstig es ist, als unmittelbar nützlich für die Erklärung der tagespolitischen Ereignisse zu gelten, so problematisch ist es, einzig in diesem Rahmen wahrgenommen zu werden und wieder in der Versenkung zu verschwinden, wenn gerade kein Staatschef halb Europa in die Freiheit entlässt oder eine Halbinsel annektiert. Osteuropa-Expertise muss als Wert an sich und nicht nur als Mittel zum Zweck anerkannt werden. Fundiertes Wissen und detaillierte Analysen bedürfen einer langfristigen Beschäftigung mit dem Gegenstand; es ist wenig sinnvoll, ein Institut zu schließen, weil der Kalte Krieg vorbei ist, nur um es 15 Jahre später erneut zu gründen, weil viele Staaten, die früher dem Warschauer Pakt oder der UdSSR selbst angehörten, sich doch nicht zu lupenreinen Demokratien entwickelt haben.

Innerhalb der Universitäten spielt die Osteuropageschichte eine große Rolle bei der Ausbildung der Geschichtsstudierenden allgemein und der Lehramtsstudierenden im besonderen. Auch ohne slawische Sprachkenntnisse können problemlos entsprechende Veranstaltungen erfolgreich absolviert werden. Die Seminare und Vorlesungen sind in der Regel sehr gut besucht, da das allgemeine Interesse an dem östlichen Europa vorhanden ist und für den "Abstecher" in mindestens eine Veranstaltung reicht. Auch die Seniorstudierenden frequentieren Osteuropa-Vorlesungen in hohem Maße und mit großem Vergnügen. Für Lehramtsstudierende ist der Besuch von einigen Osteuropa-Veranstaltungen nicht nur ein "Blick über den Tellerrand". Da russische und sowjetische Geschichte nach wie vor zum schulischen Lehrplan gehört und immer wieder Abiturthema ist, trägt die Osteuropageschichte nicht unerheblich zur Ausbildung der künftigen Geschichtslehrer*innen bei.

4. Haben Sie den Eindruck, dass die Vernetzung mit anderen Fächern einen Mehrwert für Ihr eigenes Fach bedeutet? Welche Kooperationsformen sind in diesem Zusammenhang für Sie interessant und mit Blick auf Ihren Fachgegenstand besonders geeignet?

Die Osteuropageschichte ist an den meisten Universitäten Teil der Institute oder Seminare für Geschichtswissenschaft. Der so institutionalisierte Austausch ist fundamental, da die Methoden und Ansätze die gleichen sind. Ende der 1990er Jahre gab es eine erhitzt geführte Debatte, ob die Osteuropageschichte aus ihrer "Nische" herausgeholt und ihr vermeintlicher "Bestandschutz" aufgehoben werden müsste. In einer solchen Nische befindet sie sich schon lange nicht mehr - wenn es überhaupt je der Fall war. Der Anspruch, die Osteuropageschichte müsste sich dem freien Wettbewerb mit den anderen Geschichtswissenschaften stellen, ist zwiespältig, da es in der Universitätspraxis nie nur um Expertise und Exzellenz, sondern immer auch um Macht, Stellen und Einfluss geht. Der Ruf danach, die universitären Geschichtsinstitute sollten weniger "deutsche Nabelschau" betreiben und mehr Professuren mit weiterer Länderexpertise einrichten, war wissenschaftspolitisch richtig, führte aber mancherorts dazu, dass, zumal wenn es zwei Osteuropaprofessuren gab, eine im Sinne der Globalisierung neu denominiert wurde. Im Zuge der Globalisierung der deutschen Geschichtswissenschaft musste die Osteuropageschichte also einige der ihr angestammten Stellen abgeben.

Da die Osteuropaforschung im anglo-amerikanischen Raum seit Zeiten des Kalten Krieges sehr stark ist, gibt es traditionell eine sehr enge Vernetzung nicht nur mit Einrichtungen im östlichen Europa, sondern auch mit britischen und amerikanischen Kolleg*innen. Studierende müssen sich damit auseinandersetzen, dass sie meist mehr Sekundärliteratur auf Englisch als auf Deutsch zu lesen haben. Während in den USA immer noch viele Kolleg*innen mit Verweis auf die starke deutsche Osteuropageschichte ihre Doktorand*innen anhalten, auch Deutsch zu lernen, sind junge deutsche Osteuropawissenschaftler*innen gut beraten, neben den Slawinen und Englisch auch Französisch zu beherrschen, da die Zar*innen und die russischen Eliten im 18. und 19. Jahrhundert meist auf Französisch korrespondierten. Das Fach ist daher per se sehr international angelegt und global weit vernetzt.

5. Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Fachs? Welche Entwicklungen und Herausforderungen zeichnen sich für Sie ab? Was wäre Ihres Erachtens für eine positive Entwicklung Ihres Fachs hilfreich?

Durch die Art der Implementierung der Bologna-Reform in Deutschland wurde bereits ein tiefgreifender Strukturwandel vollzogen, dessen Folgen wir in seiner ganzen Tragweite erst in den nächsten Jahren spüren werden. Wenn in der Sprachausbildung nicht bald gegengesteuert wird, könnten wir schon sehr bald vor der Situation stehen, keine Nachwuchskräfte mehr rekrutieren zu können. So lange aber Sprachkurse und auch Studiengänge nur nach quantitativen Maßstäben bewertet werden und sich für einstellige Einschreibquoten erst rechtfertigen müssen und dann geschlossen werden, ist der Niedergang erst der slawischen Sprachen sowie der Slawistik und dann der Osteuropageschichte nicht aufzuhalten. Dass es hier zu einem Umsteuern der Hochschulpolitik in den Universitäten und Bildungsministerien kommt, ist angesichts der immer noch vorherrschenden New Economy Herangehensweise nicht zu erwarten. Selbst die kürzlich wiedergewonnene Erkenntnis auf politischer Seite, dass zumindest Russland-Expertise doch wichtig sein kann, wird an den grundlegenden Strukturproblemen nichts ändern.

Für eine positive Entwicklung des Faches bedürfte es eines erneuten "Gorbatschow-Booms", der Ende der 1980er Jahre mit einer Welle der Begeisterung für Perestroika und Glasnost Hunderte junger Menschen in die Slawistik-Seminare und Osteuropa-Institute spülte. Jedoch wird das Fach von einem solchen Strohfeuer langfristig nicht gerettet. Wichtig wäre ein grundlegender Paradigmenwechsel in der Bewertung von akademischen Fächern weg von einer quantitativen, vordergründigen Rentabilitätsprüfung hin zu einer qualitativen Wertschätzung eines Fachs in Bezug auf Erkenntnisgewinn und Wissensvielfalt. Anders formuliert darf die Frage in der akademischen Wissenschaft nicht sein, welche Erkenntnisse sich wie zu Geld machen lassen oder welches Fach die höchsten Absolvent*innenzahlen liefert. Die Frage muss lauten: In welchen Formen und Disziplinen wollen wir als Gesellschaft über uns und die (Um-)Welt nachdenken und Wissen darüber generieren?

Susanne Schattenberg (Foto: Harald Rehling)

Susanne Schattenberg ist seit 2008 Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas sowie Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Sie ist u.a. Mitherausgeberin vom Nachschlagewerk "Docupedia-Zeitgeschichte" und der Zeitschrift "Kritika: Explorations In Russian And Eurasian History". Ihre Forschungsschwerpunkte betreffen insbesondere die späte Sowjetunion, aber auch den Stalinismus sowie die Kulturgeschichte der russisch-sowjetischen Außenpolitik von 1815-1991. Weitere Informationen.