(Photographie (c) privat)

Ihr Fach gehört zu den sogenannten kleinen Fächern. Bitte stellen Sie uns Ihr Fach in wenigen Sätzen vor.

Das Fach widmet sich der lateinischen Sprache und Literatur vom Frühmittelalter bis zur Renaissance (6. bis 15. Jh., dann heißt es kurz „Mittellatein“, analog zu „Mittelalter“) sowie dem Latein ab dem 16. Jh. („Neulatein“). Es ist ein enormes Erbe, das zum erheblichen Teil noch nicht erschlossen ist, unter anderem weil das Fach akademisch zwar um 1900 entstand, sich in der Breite aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg und zwar vorwiegend in Italien und Deutschland etablierte. Die Masse an Texten, die noch nicht untersucht wurde, ist nicht nur eine herausfordernde Aufgabe, sie ist auch ein Vorteil, weil sie den jungen Leuten, die sich im Rahmen ihres Studiums darauf einlassen, die Möglichkeit gibt, spannende Entdeckungen zu machen. Das Fach ist eine moderne Philologie, und das bedeutet, dass es auch eine Kommunikations- und Medienwissenschaft ist. Das Studium der handgeschriebenen Bücher als Textträger und Produkte gesellschaftlicher Prozesse ist ein fester, spannender und gerade bei den Studierenden populärer Bestandteil des Faches. Das ist oft der Grund dafür, dass Studierende aus Fächern wie Geschichte, Germanistik oder Romanistik gerne die Veranstaltungen besuchen.

Welche Rahmenbedingungen an Ihrem Fachstandort wirken sich wesentlich auf Ihre Lehr- und Forschungspraxis aus? Wie beurteilen Sie diese?

Die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg verfügt traditionell über einen Schwerpunkt in den Mittelalter- und Renaissance-Studien. Das wirkt sich günstig auf das Fach aus, das gleichzeitig anderen Fachrichtungen im Rahmen seiner Möglichkeiten Impulse zu verleihen vermag. Der innere Zusammenhang und enge Dialog der mediävistischen Fächer, unabhängig von ihrem akademischen Ursprungsort in der Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte, Romanistik usw. macht ja die Stärke dieser Fachrichtung aus. Meine persönliche Erfahrung am hiesigen Standort ist positiv. Ich konnte den Eindruck gewinnen, dass die Verantwortlichen in der Fakultät und in der Universitätsleitung den besonderen Wert eines sogenannten Kleinen Faches, das selten an einer Uni verstreten ist, erkannt haben. Das hat es uns ermöglicht, auch größere Projekte in die Tat umzusetzen, etwa im Rahmen von breiteren Forschungsvorhaben, aber auch als Anbieter von internationalen und von der hiesigen Universität unterstützten Fortbildungskursen wie unserem SCRIPTO-Programm oder als Organisatoren von Veranstaltungen wie dem 10. Internationalen Mittellateinkogress im September dieses Jahres (2024). Ausgesprochen nützlich für das Fach, das seit seiner Entstehung im 19. Jh. einen ausgeprägten internationalen Charakter aufweist, waren und sind in Erlangen die starken Bemühungen um Internationalisierung von Forschung und Lehre. Junge und etablierte Forscher und Forscherinnen aus der ganzen Welt waren bei uns zu Gast, und wir haben studentische Gruppen häufiger ins Ausland geführt, zum Beispiel nach Mailand, Prag oder Stockholm.

Was spricht Ihres Erachtens dafür oder dagegen, dass Ihr Fach in der Öffentlichkeit und innerhalb des deutschen Hochschulsystems angemessen wahrgenommen wird?

Das Fach wird trotz seiner Bedeutung – immerhin geht es um das über 1000jährige Erbe der lateinischen Kultur, die bis in die Frühe Neuzeit prägend war (so hat erst das Französische im 17. Jh. das Latein als sprachliches Medium mit europäischer Geltung ersetzt) – nicht angemessen wahrgenommen, weder akademisch noch in der Gesellschaft. Viele wissen zwar ungefähr, was die Carmina Burana sind, nicht aber, dass es ein Fach gibt, das die Entstehung und die Bedeutung dieser Gedichtsammlung besser als andere erklären kann. Warum? Auch in akademischen Kreisen gilt das Mittel- und Neulatein als sehr spezielle, auch wegen der notwendigen Sprachkenntnisse anspruchsvolle und etwas sperrige Disziplin. Die Erfahrung zeigt, dass sie durchaus begeistern kann, wenn man das richtige Publikum anspricht, zum Beispiel im Rahmen von öffentlichen Vorträgen. Aber der Disziplin fehlen wie vielen anderen Kleinen Fächern die finanziellen und persönlichen Mittel, um eine größere Sichtbarkeit zu erreichen. Dass es eine gewisse ihm innewohnenden Strenge zugunsten einer vereinfachenden Popularisierung nicht aufgegeben hat, ist allerdings ein Qualitätsmerkmal und kein Makel.

Haben Sie den Eindruck, dass die Vernetzung mit anderen Fächern einen Mehrwert für Ihr Fach bedeutet? Welche Kooperationsformen sind in diesem Zusammenhang für Sie interessant und mit Blick auf Ihren Fachgegenstand besonders geeignet?

Wie schon gesagt, ist die Vernetzung für das Fach von grundlegender Bedeutung. Sie ist immer wieder von Vorteil. So konnten in Erlangen mehrere Verbundprojekte realisiert werden (etwa über Phänomene der Sakralität in Ost und West), und das Fach insgesamt hat von ähnlicher Verbundforschung an anderen Universitäten sehr profitiert, etwa in Münster oder Köln. Wir wissen aus langjähriger Erfahrung, dass unsere Studierenden, Doktoranden und Doktorandinnen gerade die Verflechtung unterschiedlicher Disziplinen hochschätzen. Gleichwohl kann nicht verschwiegen werden, dass in den letzten Jahren die Philosophische Fakultät meiner Universität genauso wie die Fakultäten an anderen akademischen Standorten eine Neuausrichtung vorangetrieben hat, welche auch auf Kosten der Mediävistik verwirklicht wurde und in meinen Augen keine langfristige Perspektive bietet. Durch die Aufgabe ganzer mediävistischer Fachrichtungen wurde die so erfolgreiche interdisziplinäre Textur stark beschädigt.

Welche Bedeutung haben außeruniversitäre (Forschungs-)Institute für Ihr Fach?

Sie hatten in der Vergangenheit eine größere Bedeutung als heutzutage. Das hängt damit zusammen, dass etwa langfristige Akademie-Projekte rar geworden oder am Auslaufen sind (bei uns betrifft das u.a. das Mittellateinische Wörterbuch in München). Wir stellen auch fest, dass die Zusammenarbeit mit jenen Bibliotheken, die über größere Handschriftenbestände verfügen, schwieriger geworden ist, weil sie sich offensichtlich immer mehr als Hüter von Objekten oder inzwischen sogar lediglich als Verwalter von digitalen Daten und nicht mehr als Forschungsinstitutionen verstehen. Der „forschende Bibliothekar“, der eine Glorie der deutschen Kulturlandschaft in den letzten 100 Jahren war, ist beinahe ausgestorben. Dem Fach – so mein Eindruck – fehlen vielerorts die Gesprächspartner. Gerade auf diesem Gebiet wünscht man sich eine allgemeine Rückbesinnung auf eine lange und sehr erfolgreich gepflegte Tradition.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Faches? Welche Entwicklungen und Herausforderungen zeichnen sich für Sie ab? Was wäre Ihres Erachtens für eine positive Entwicklung Ihres Fachs hilfreich?

Es ist nicht weithin bekannt, aber eine Tatsache, dass das Fach immer ein starkes Interesse für die modernsten Techniken gehegt hat. Die Handschriftenforscher haben sich zum Bespiel immer der neuesten Medien bedient. Ich denke hier an die Photographie im 19. Jh. oder an die frühen Versuche der Digitalisierung in den 1990er Jahren. In Deutschland gehörten die Mittellateiner, etwa in Köln, zu den ersten, welche das Potential der EDV, der elektronischen Datenverarbeitung (wie sie damals hieß) erkannten und Pionierarbeit leisteten. Ich denke, dass diese durchaus nach wie vor vorhandene Neugier und Offenheit sich auch in Zukunft auszahlen wird. Wobei eine durchaus große Herausforderung besteht: die Sprachkenntnisse. Denn es lässt sich beobachten, dass in den Schulen das Interesse an Latein zurückgeht. Es ist leicht vorauszusehen, dass auch in Deutschland die zukünftigen Forscher und Forscherinnen in unserem Bereich Latein erst an der Universität lernen werden, was in einigen Ländern, etwa im ehemaligen Ostblock, schon Gang und Gäbe ist. Methodisch werden die jüngeren Generationen die Ergebnisse der Reflexion über Sinn und Unsinn der Digitalisierung ins Fach einbringen und für das Fach nutzen können, da bin ich mir sicher. Die Chancen, welche die Fortschritte auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz bieten, sind enorm und werden aktuell auch vielfach erkannt, gerade in unserem Fach, das sich mit einer Masse von Texten und Handschriften auseinandersetzt, die noch gar nicht erforscht wurden. Es gibt etwa derzeit weltweit vielfältige Bemühungen um die Entwicklung von intelligenten Programmen, um die Transkribierung und die Beschreibung von Handschriften zu erleichtern. In einer Gesellschaft, die beansprucht, alles zu bewahren und verfügbar zu machen, werden Fachleute für das kulturelle Gedächtnis dringend gebraucht, welche die Datenmenge intellektuell durchdringen. Das gilt auch für die mutigen Forscher und Forscherinnen, die sich in Zukunft dem reichhaltigen und kulturell tief verwurzelten Erbe des Mittellateins und des Neulateins widmen werden.

Michele Ferrari ((c) privat)

Michele C. Ferrari hat den Lehrstuhl für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg inne. Zu seinen Lehr- und Forschungsschwerpunkten zählen mittelalterliche Literatur und Kultur der Zeit 500 bis 1500, lateinische Literatur und Kultur seit 1500, die Bildungsgeschichte der Neuzeit sowie Paläographie, Geschichte der Schriftlichkeit und Textualität im mittelalterlichen Westen. In einem aktuellen Forschungsprojekt widmet sich Professor Ferrari dem Thema „Bildenzyklopädien des frühen 16. Jahrhunderts“. Zuletzt erschien Le monde en images. Une encyclopédie bavaroise au début du XVIe siècle (Dijon 2021). Professor Ferrari ist Mitglied der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt und Korrespondierendes Mitglied der Reial Acadèmia de Bones Lletres in Barcelona sowie Mitglied mehrerer Fachverbände und akademischen Kommissionen (u.a. an den Akademien der Wissenschaften in Heidelberg und München). Weitere Informationen