Geowissenschaftlicher Arbeitskreis
In Forschung und Lehre beschäftige ich mich mit Kristallographie. In der Kristallographie untersuchen wir die Anordnung von Atomen in kristallinen Festkörpern: Wir analysieren die atomare Struktur, die Eigenschaften und das Verhalten von Kristallen mithilfe verschiedener Techniken wie beispielsweise der Röntgenbeugung. Die Kristallographie ist für das Verständnis von Materialien auf atomarer Ebene von entscheidender Bedeutung und findet Anwendung in der Chemie, Physik, Biologie, den Geo- und Materialwissenschaften.
Die Rahmenbedingungen an der Universität Bremen sind für die Forschung an kristallographischen Themen sehr gut. Die Kristallographie ist ein fester Bestandteil in der Forschung und Lehre, sowohl in den Geowissenschaften als auch in der Chemie. In unserem internationalen Masterstudiengang „Materials Chemistry and Mineralogy“ wird diese Vernetzung aufgegriffen und wir lehren kristallographische Grundlagen und fortgeschrittene Anwendungen. Im Bereich der Forschung sind die materialwissenschaftlichen Arbeitsgruppen der Uni Bremen im „MAPEX Center for Materials and Processes“ umfänglich vernetzt. So werden für komplexe Fragestellungen kristallographische Analysemethoden zusammen mit anderen Methoden wie z.B. Transmissionseleketronenmikroskopie oder Infrarot-Spektroskopie kombiniert.
Meiner Erfahrung nach wird die Kristallographie in der Öffentlichkeit und innerhalb des deutschen Hochschulsystems angemessen wahrgenommen – wenn auch oft etwas versteckt.
Ich selbst war zum Beispiel erst an einem Department für Physik, dann für Chemie und nun bin ich an einer Fakultät für Geowissenschaften. Die Kristallographie war in meiner Forschung eindeutig das verbindende Element, was sich aber für Außenstehende durch die Bezeichnung der Arbeitsgruppen nicht sofort erschließen lässt. Viele Arbeitsgruppen, die man auf kristallographischen Konferenzen trifft, tragen den Begriff Kristallographie nicht in der Denomination, beschäftigen sich aber so wie ich eindeutig mit kristallographischen Fragestellungen und nutzen die Methoden der Kristallographie, um interdisziplinäre Fragestellungen zu lösen.
Kristallographie ist ein sehr interdisziplinäres Fach und arbeitet auf vielfältige Weise mit verschiedenen naturwissenschaftlichen Fächern zusammen. Deshalb würde ich Kristallographie auch nicht direkt als kleines Fach ansehen, sondern sehe sie als essentiellen interdisziplinären Bestandteil der Materialwissenschaften, Physik, Chemie, Biologie und Geowissenschaften.
Chemie: Die Kristallographie hilft Chemiker*innen, die molekularen und atomaren Strukturen von Verbindungen zu bestimmen, was ein tieferes Verständnis von chemischen Bindungen, Reaktionsmechanismen und Materialeigenschaften ermöglicht. So können beispielsweise die Strukturen komplexer organischer Moleküle, darunter auch Arzneimittel, aufgeklärt werden, was bei der Entwicklung von Medikamenten hilfreich ist.
Physik: In der Physik bietet die Kristallographie Einblicke in die Eigenschaften von Materialien, wie z. B. ihr elektrisches, magnetisches und thermisches Verhalten. Die Untersuchung von Kristalldefekten trägt zur Entwicklung neuer Materialien mit optimierten Eigenschaften bei.
Biologie: Die Strukturbiologie stützt sich stark auf die Kristallographie, um die dreidimensionalen Strukturen von Proteinen und anderen natürlichen Stoffen zu bestimmen. Diese Informationen sind entscheidend für das Verständnis biologischer Prozesse auf molekularer Ebene und für die Entwicklung von Medikamenten.
Materialwissenschaft: Die Kristallographie ist für die Entwicklung neuer Materialien wie Metalle, Keramiken und Polymere unerlässlich. Sie hilft dabei, die Mikrostrukturen von Materialien zu verstehen und zu beeinflussen, um ihre Leistung für verschiedene Anwendungen zu verbessern, z. B. in der Elektronik, der Luft- und Raumfahrt und der Nanotechnologie.
Geowissenschaften: In den Geowissenschaften wird die Kristallographie zur Untersuchung von Mineralien und der Kristallstrukturen geologischer Proben eingesetzt. Diese Informationen tragen zum Verständnis der Entstehung und Entwicklung der Erdkruste bei und können bei der Erkundung natürlicher Ressourcen helfen.
Durch diese Kooperationen dient die Kristallographie als Brücke zwischen den Disziplinen.
Außeruniversitäre Forschungseinrichtungen spielen in der Kristallographie eine sehr große Rolle. Für Strukturanalysen auf atomarer Ebene bedient sich die Kristallographie unter anderem den Methoden der Röntgen-, Elektronen- und Neutronenbeugung. Röntgen- und Elektronenbeugungsexperimente können dabei mit dedizierter Ausrüstung an Universitäten durchgeführt werden. Es gibt jedoch viele Fragestellungen, die nicht mit den Röntgengeräten an Universitäten gelöst werden können, dazu zählen insbesondere zeitaufgelöste-, temperatur- und druckabhängige Experimente. Dann wird in der Forschung Synchrotronstrahlung eingesetzt. In Deutschland sind wir in dieser Hinsicht mit den Möglichkeiten an PETRA III am Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg, am BESSY II am Helmholtz-Zentrum Berlin und der deutschen Beteiligung am European Synchrotron (ESRF) in Grenoble, Frankreich, sehr gut aufgestellt. Neutronenbeugung ist eine Methode, die spezieller Forschungsreaktoren bedarf. Auch hier gibt es in Deutschland mit dem FRM II Reaktor in Garching bei München eine dedizierte Einrichtung und zusätzlich mit dem Institut Laue-Langevin (ILL) in Grenoble eine internationale Forschungseinrichtung, die von Frankreich, Deutschland und dem Vereinigten Königreich in Partnerschaft mit elf anderen europäischen Ländern finanziert und verwaltet wird. Die Anzahl an Experimentierstationen, die an den verschiedenen Einrichtungen modernste kristallographische Methoden anbieten und weiterentwickeln, unterstreicht die Relevanz der Kristallographie für die heutige Forschung.
Ich persönlich sehe die Zukunft der Kristallographie weiterhin als interdisziplinäre Wissenschaft, die essentiell ist, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts begegnen zu können. Ohne die Kristallographie und können wir die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen, besonders im Bereich der nachhaltigen Energie und innovativen Industrie (z.B. Batterieforschung), nicht erreichen.
Die kristallographische Gemeinschaft ist sowohl in Deutschland als auch international sehr aktiv: Es gibt jährliche nationale und internationale Tagungen, sowie viele Workshops und Sommerschulen, in denen interessierte Studierende und Wissenschaftler*innen die Methoden der Kristallographie auf theoretischer und angewandter Ebene erlernen. Ich sehe als Herausforderung, dass die Kristallographie oftmals als reine Methodik abgestempelt wird. Für eine positive Entwicklung, ist es hilfreich zu betonen, welche Fragestellungen die Kristallographie löst und welche faszinierenden Ergebnisse sie produzieren kann.
Ella Schmidt bekleidet seit 2022 eine Juniorprofessur für Kristallographie und Geomaterialforschung an der Universität Bremen. Nach ihrem Physikstudium und einer Promotion in Kristallographie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg war sie als PostDoc an der Universität Oxford tätig. In ihrer aktuellen Forschung beschäftigt sie sich mit fehlgeordneten kristallinen Materialien. Ella Schmidt ist Preisträgerin des Max-von-Laue-Preises, der von der Deutschen Gesellschaft für Kristallographie für hervorragende wissenschaftliche Arbeiten von Nachwuchswissenschaftler*innen der Kristallographie verliehen wird. Weitere Informationen