Justitia ((C) Alejandro Pohlenz)
Verkürzt wird die Kriminologie als die Lehre von „Verbrechen, Verbrecher (oder Verbrecherin) und Verbrechenskontrolle“ beschrieben. Damit wird deutlich, dass einerseits ein Phänomen – Kriminalität – andererseits aber auch individuelle und gesellschaftliche sowie normative Bezüge eine Rolle spielen: Bestimmt werden muss zunächst, was Kriminalität ausmacht und wie sie zu erklären ist. Während dies klassische Fragestellungen der Kriminologie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert sind, kommen in den 1960er Jahren auch Fragen nach der Kriminalisierung hinzu – wer bestimmt, was Kriminalität ist, wer schreibt dies einzelnen Individuen zu? Nicht nur die Tat und das kriminelle Individuum sind damit für die Forschenden von Interesse; es werden vielmehr Fragen an die Gesetzgebung und die Strafverfolgungsorgane gestellt; soziale und machtkritische Betrachtungen, etwa zur Selektivität der Strafverfolgung, charakterisieren die Kriminologie heute.
Wichtige Bezugswissenschaften für die Kriminologie sind das (Straf-)Recht, das den normativen Rahmen für die Kriminalitätsbestimmung bietet, die Psychologie bzw. in der frühen Kriminologie die Psychiatrie und die Sozialwissenschaften. Während im anglophonen Sprachraum, der die kriminologische Wissenschaft wesentlich prägt, aber auch in den Benelux-Staaten oder Skandinavien die Kriminologie fachlich regelmäßig bei den Sozialwissenschaften, seltener auch bei der Psychologie angesiedelt ist, finden sich an den deutschen Universitäten die kriminologischen Lehrstühle und Denominationen fast ausschließlich an den juristischen Fakultäten. Erkennbar wird an diesen Bezügen, dass die Kriminologie eine internationale und interdisziplinäre Wissenschaft ist. Was die Kriminologie übrigens nicht ist: Kriminalistik oder die Lehre vom „True Crime“ – wir bilden keine Ermittler:innen oder gar Profiler wie in (amerikanischen) Krimis aus!
An der juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum wird Kriminologie als Grundlagenfach gelehrt. Das bedeutet, dass die Studierenden früh die Chance bekommen, sich über die Entstehung von Kriminalität, ihre Prävention und ihre Bekämpfungsmöglichkeiten Gedanken zu machen, ohne von vornherein auf die normativen Rahmenbedingungen beschränkt zu werden. Dadurch, dass es nicht nur ein Semester, sondern mit einer Vertiefungsvorlesung Kriminologie II ein weiteres Semester und mit den stets angebotenen kriminologischen Seminaren ein breites Lehrangebot gibt, kann den Interessierten die Kriminologie weitaus umfassender nahegebracht werden als an anderen Fakultäten. Auf dieses Grundlagenwissen können sie – und wir Lehrenden - im späteren Studienverlauf zurückgreifen; sowohl im Straf- und Strafprozessrecht als auch in den Vertiefungsgebieten des Jugendstrafrechts, das auf Erkenntnissen der Jugendkriminologie aufbaut, des Sanktionenrechts als Lehre von den Strafen und ihrer Vollstreckung oder dem Strafvollzugs- und Resozialisierungsrecht, das sich mit der Behandlung von Straffälligen auseinandersetzt.
Meine eigene fachliche Ausrichtung profitiert daneben von der guten Vernetzung mit den Sozialwissenschaften und den dort angesiedelten Legal Gender Studies sowie einem Methodenzentrum, das empirische Methoden auch für die kriminologischen Doktorand:innen anbietet.
Nach meiner Erfahrung wird die Kriminologie durchaus wahr- und z.B. von Medien und Politik auch stark in Anspruch genommen; stärker, als das „kleine Fach“ es mitunter leisten kann. Beispiele sind hier Erklärungen zur Kriminalitätsentwicklungen, zur Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters oder zu geplanten Strafverschärfungen. Allerdings fehlt es in der Öffentlichkeit nicht selten am Verständnis für das Fach; Nachfragen zu spektakulären Kriminalfällen sprechen dafür, dass, wie oben angesprochen, Kriminologie und Kriminalistik verwechselt werden. Nach meinen Eindruck - das gilt für die Öffentlichkeit wie auch für das deutsche Hochschulsystem - fällt es oft auch schwer, die Interdisziplinarität zu verstehen: Dass ein an einer juristischen Fakultät angesiedeltes Fach mit sozialwissenschaftlichen Methoden arbeitet und entsprechende Forschungsbedingungen braucht, befremdet offenbar manche.
Ohne Vernetzung mit anderen Fächern kann die Kriminologie nicht existieren – die sozialwissenschaftliche Methodenkompetenz, aber auch Fragen der sozialen Arbeit oder der psychologischen Behandlungsforschung mit Blick auf adäquate Reaktionen auf Straffälligkeit sowie der Gender Studies zum gender gap bei der Kriminalitätsbelastung sind nur einige Aspekte. Die Rechtswissenschaft steuert das Verständnis für die normativen Rahmenbedingungen bei, hier sind vor allem Grenzen durch Menschenrechte und Verfassungsrecht zu nennen. Interdisziplinäre Kooperationen, z.B. durch die gemeinsame Beantragung von Forschungsprojekten, sind daher für gelingende Forschung besonders wichtig. Hier hat sich auch die internationale Zusammenarbeit bewährt – eine starke europäische Kriminologie existiert seit den 1990er Jahren und profitiert zum einen von den jährlichen Konferenzen der European Society of Criminology, zum anderen aber gerade auch von der intensiven Forschungsförderung durch die Europäische Union (mit verschiedenen Institutionen und Förderformen). Sie arbeitet wegen der beschriebenen unterschiedlichen Herkunftsfakultäten der Kriminologie in Europa notwendigerweise und ohne Scheuklappen interdisziplinär.
Ein Problem für den kriminologischen Nachwuchs wird aber in Deutschland häufig nicht angemessen berücksichtigt: Viele Promotionsinteressent:innen mit klugen Fragestellungen und vor allem den entsprechenden methodischen Grundausstattungen kommen aus den Sozialwissenschaften – sie können in der Regel an den juristischen Fakultäten nicht promoviert werden. Einen Ausweg, der aber ebenfalls oft nicht beschritten wird, sind Kooptationen der Lehrstuhlinhabenden. Hier zeigt sich wie so häufig, dass Interdisziplinarität an den Universitäten propagiert, in der Sache aber unzureichend umgesetzt wird.
Außeruniversitäre Forschungsinstitute spielen für die Kriminologie in Deutschland eine wichtige Rolle. Seit den 1970er Jahren nahm hier das Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht (damals noch Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Strafrecht) eine führende Rolle ein. Heute sind auch die Kriminologische Zentralstelle und das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen mit großen empirischen Forschungsprojekten zu nennen.
Allerdings ist diese Bedeutung für die universitäre Forschung mit dem Problem verbunden, dass bei ausgeschriebenen Forschungsprojekten nicht selten die Forschungsinstitute als besser ausgestattet und damit als leistungsfähiger eingeschätzt werden und den Zuschlag bekommen, die universitären Forschenden damit leer ausgehen.
Jedes Fach kennt besondere Herausforderungen – in der Kriminologie liegen sie in der Lehre an juristischen Fakultäten vor allem darin begründet, dass hier ein interdisziplinär und international ausgerichtetes Fach, das sich empirisch-sozialwissenschaftlicher Methoden bedient, Studierenden vermittelt wird, die innerhalb einer spezifischen Rechtsordnung vor allem dogmatisch-theoretisch ausgebildet werden. Unter Kriminolog:innen wird die Lage des eigenen Fachs zudem als krisenhaft betrachtet: Einerseits wird die Bedeutung des theorie- und empiriefundierten Wissens zur Kriminalität, zu Täter- und Opferseite sowie zu den verschiedenen staatlichen und privaten, informellen und formellen Reaktions- und Präventionsformen hervorgehoben, das Praxis und Kriminalpolitik zur Verfügung gestellt werden soll und von dort auch abgefordert wird. Auch die Studierenden fragen die kriminologischen Lehrangebote stark nach – das gilt für die Jurastudierenden, aber auch diejenigen anderen Fächer, die regelmäßig diese Angebote ebenfalls nutzen und dort auch Prüfungen ablegen. Andererseits beklagt die kriminologische Community in Deutschland eine Auszehrung des Fachs durch die Streichung von Lehrstühlen, die Reduzierung qualifizierter Lehrangebote und die Ausdünnung des wissenschaftlichen Personals – hier hat sich ausweislich der Einschätzung der Kriminologischen Gesellschaft in den vergangenen Jahren die Situation tendenziell noch verschlechtert (http://www.krimg.de/drupal/node/586): „Diese Entwicklung muss gestoppt werden. Angesichts alter und neuer Herausforderungen bei der Erforschung von Kriminalität und geeigneter Reaktionen hierauf darf die unabhängige kriminologische Forschung an Universitäten und anderen Hochschulen nicht weiter zurückgebaut werden. Sie ist personell und finanziell auszuweiten. Neue Standorte für kriminologisch ausgerichtete Professuren sollten hinzukommen.“ Dieser Forderung kann ich mich nur anschließen.
Christine Morgenstern hat seit dem Jahr 2023 den Lehrstuhl für Kriminologie an der Ruhr Universität Bochum inne. Zu ihren vorherigen akademischen Stationen zählen die Freie Universität Berlin, das Trinity College Dublin und die Georg-August Universität Göttingen. Schwerpunkte ihrer Forschungstätigkeit sind unter anderem Grund- und Menschenrechte in der Strafrechtspflege, Genderfragen in der Kriminologie sowie die Europäisierung der Strafrechtspflege. Neben zahlreichen weiteren Gutachtertätigkeiten und Herausgeberschaften fungiert Professorin Morgenstern als Mitherausgeberin der Neuen Kriminalpolitik und als Mitglied des Editorial Boards des European Journal of Probation. Weitere Informationen