"Koptologie" heißt die Fortsetzung der Ägyptologie jenseits des historischen Horizontes der Antike. Zwischen ca. 300 und 1300 n.Chr. wurde die ägyptische Sprache nicht mehr in Hieroglyphen bzw. hieroglyphenbasierten Schriften, sondern mit den Zeichen des griechischen Alphabets (und einigen Zusatzbuchstaben) geschrieben. Dieses Ägyptisch im griechischen Gewande, die sogenannte koptische Sprache, diente der Überlieferung einer umfangreichen und bedeutenden christlichen Literatur wie auch der schriftlichen Kommunikation des Alltags im spätantiken Ägypten. Das ursprüngliche Metier der Koptologie ist die Philologie und Linguistik dieser Sprache gewesen. Heute schließt der kulturgeschichtlich verbreiterte Ansatz des Faches und seiner Fachthemen auch nichtschriftliche Quellentypen und deren Methodenrepertoires ein, wie archäologische und baugeschichtliche Befunde oder die in Objekten (wie etwa spätantiken Textilien) zugängliche materielle Kultur. Dank der geopolitischen Stellung Ägyptens und der chronologischen Spannweite (und Menge) koptischer Quellen ist koptologische Expertise für die Erforschung des frühen Christentums, des frühen Islam und der Transformation der Antike von hoher Bedeutung.
Berlin, derzeit einer von drei Standorten koptologischer Lehre in Deutschland neben Göttingen und Münster, ist seit dem 18. Jh. ein Habitat der Koptologie gewesen: Leibniz' Freund Veyssière de la Croze verfasste hier das erste moderne koptische Wörterbuch, seine Schüler Jablonski und Scholz waren Wegbereiter der im 19. Jh. aufblühenden koptischen Philologie, Wilhelm von Humboldt studierte am Koptischen den Sprachbau des noch unbekannten Altägyptischen, an der Königlichen Universität gab es in den 1840er Jahren schon einmal eine ao. Professur für koptische Literatur und Sprache und Protagonisten der Berliner Ägyptologie legten Fundamente der modernen koptischen Sprach- und Textforschung. Dass heute die Koptologie an der Freien Universität angesiedelt ist, hat allerdings nicht in erster Linie historische Ursachen, sondern hängt mit der gegenwärtigen Dichte regional- und altertumswissenschaftlicher Forschung in Berlin nicht allein an den Universitäten, sondern auch an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, dem Deutschen Archäologischen Institut, der Staatsbibliothek, den Museen und dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte zusammen. Ihr enormes Potenzial wurde durch die intellektuellen und finanziellen Investitionen des Exzellenzclusters "Topoi" (https://www.topoi.org/) zu einer eminenten Forschungslandschaft integriert, deren Dachstruktur, das Berliner Antike-Kolleg (BAK) (https://www.berliner-antike-kolleg.org/), auch nach Ende der Clusterarbeit fortbesteht und wirkt. In diese Forschungslandschaft hinein wurde 2014 eine Professur für Ägyptologie mit dem Schwerpunkt Koptologie implantiert. So gehört zu den Rahmenbedingungen meines Forschens und Lehrens hier, dass die Koptologie von Nachbarfächern historisch-kultureller oder systematisch gearteter Anrainerschaft umstellt ist, die ihr Resonanzraum bieten, mit denen sie Forschungsthemen teilt und von denen sie Anregungen empfängt.
Im 19. und 20. Jh. gehörte, neben Ägyptologie und Theologie, zu den wichtigsten institutionellen Kontexten und "Absatz-Gebieten" koptologischer Forschung die Wissenschaft des Christlichen Orients. Dieses kleine Fach befindet sich seit Jahrzehnten in Rezession; kaum bemerkt von der öffentlichen wie der akademischen Wahrnehmung, verschwindet es - horribile dictu! - zusammen mit seinem Forschungsgegenstand, den in islamischen Mehrheits-Gesellschaften lebenden christlichen Minderheiten, und kann die gesellschaftliche und akademische Relevanz der Koptologie nicht länger unterstützen. Ägypten - das sogenannte "Alte" der Ägyptologie ebenso wie auch das spätantike und mittelalterliche der Koptologie - ist exzeptionell wegen der Koinzidenz von Jahrtausende langen kulturellen Traditionen und natürlichen klimatischen Bedingungen, die die Konservierung selbst organischer Materialien ermöglichen. Dank dieser Umstände haben sich in Ägypten, und nur hier, z.B. hunderttausende Papyri in allen historisch einschlägigen Sprachen - vom Ägyptisch-Koptischen über das Aramäische, Griechische, Lateinische bis hin zum Arabischen (um nur die prominentesten zu nennen) erhalten. Wenn die Daten, die daraus für verschiedenste Aspekte der pharaonischen, hellenistischen, römischen, spätantiken, byzantinischen, frühislamischen und mittelalterlichen Geschichte Ägyptens zu gewinnen sind, halbwegs repräsentativ für die je zeitgenössische antike und nachantike Umwelt sein sollten, dann verdient Ägypten, das papyrologische Langzeit-Gedächtnis der Menschheit genannt zu werden. Tatsächlich hängt die erhöhte Wahrnehmung, deren sich die Koptologie nach Kriterien wie Projektbewilligungen in nationalen und internationalen Ausschreibungsformaten oder die Etablierung des Faches an der Freien Universität und anderen Orten der Welt in letzter Zeit erfreut, damit zusammen, dass die Bedeutung koptischer (bzw. in koptischer Übersetzung erhaltener) Texte und anderer zeitgenössischer Befunde stärker in den Blick der Alten Geschichte mit ihrem derzeit prominenten Spätantike-Schwerpunkt wie auch der frühislamischen und frühmittelalterlichen Geschichte und Religionswissenschaft geraten ist. Solche der Koptologie neu zuwachsenden interdisziplinären Fachkontexte wiegen die nachlassende Virulenz ihrer früheren Kontexte auf.
Nach dem zuvor Gesagten ist klar, dass die Koptologie in interdisziplinären Konstellationen gedeiht. Das Gespräch mit anderen Fächern liegt in ihrer eigenen Natur, denn während des Jahrtausends des aktiven Gebrauchs des Koptischen in Ägypten war diese Sprache nie ausschließlich oder auch nur überwiegend, sondern stets in bilingualen Konstellationen neben dominanten Prestige-Sprachen in Gebrauch - zunächst neben dem Griechischen, später neben dem Arabischen. Wenn die Koptologie zu vielen Themen ein wichtiges Wort mitzureden hat, so gibt es doch kaum eine historische Thematik, die allein aus koptischen Quellen erschöpfend bearbeitet werden kann; im Alltagsgeschäft der Koptologie ist der Blick stets auch auf andere Fächer, wie die griechische und die arabische Papyrologie, die Alte Geschichte oder die Patristik, gerichtet. Und natürlich arbeitet die Koptologie, wie alle kulturgeschichtlichen Regionalwissenschaften, mit Methoden und Modellen, die in systematischen und vergleichenden Fächern wie Kultur-, Kunst-, Literatur-, Rechts-, Religions-, Sprach- oder Wirtschaftswissenschaft entwickelt wurden. In altertumswissenschaftlichen Verbundforschungs-Formaten findet die Koptologie also immer Anknüpfungspunkte.
Wie erwähnt, sehe ich die Koptologie derzeit in einer Konjunktur der Nachfrage nach ihren spezifischen Leistungen. Demgegenüber ist der Umfang der akademischen Lehre - wie übrigens auch die Nachfrage nach ihr - gering. Deshalb ist es zunehmend schwierig geworden, für einschlägige Stellenausschreibungen gut ausgebildete Bewerber*innen zu finden. Wie vermutlich auch andere wenig standardisierte Fächer mit hohen Spezialisierungen und geringen Studierendenzahlen, so sieht sich die Koptologie, egal ob als Studienfach oder, wie in Berlin, als Teilgebiet der Ägyptologie, vor allem mit zwei Herausforderung im akademischen Betrieb konfrontiert: Zum einen erweist sich das didaktische Setting und der hohe Bedarf von Lehrkapazität in den modularisierten Studiengängen für die Vermittlung dieses Typs Wissen als nicht ideal. Zum anderen ist die auf Normparametern basierende Auslastungs-Berechnung von Studiengängen eine latente Bedrohung für Fächer wie die Koptologie, deren Absolvent*innen doch nur in kleiner Zahl employiert werden können. Wenn der Status "kleines Fach" die Anwendung eines diesem Fächertyp unangemessenen Berechnungsschlüssels außer Kraft setzen würde, - das wäre hilfreich für das Standing und die positive Entwicklung solcher Fächer.
Tonio Sebastian Richter hat seit 2014 die Professur für Ägyptologie mit dem Schwerpunkt Koptologie an der FU Berlin inne. Das kleine Fach Koptologie ist deutschlandweit mit drei Professuren an drei Universitätsstandorten vertreten. Als Akademieprofessor der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften leitet Professor Richter das Akademienvorhaben "Strukturen und Transformationen des Wortschatzes der ägyptischen Sprache". Zudem ist er Leiter des DFG-Langzeitprojekts "Database and Dictionary of Greek Loanwords in Coptic". Professor Richter ist u.a. Vorstandsmitglied des Berliner Antike-Kollegs, Sprecher des Zentrums Grundlagenforschung Alte Welt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Mitglied der Internationalen Thesaurus-Kommission des Thesaurus Linguae Latinae der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und des Beirates des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Kairo, sowie langjähriges Mitglied im Editorial Board der Zeitschriften "Lingua Aegyptia. Journal of Egyptian Language Studies" und "Zeitschrift für Ägyptische Sprache und Altertumskunde". Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der koptischen Schrift und Sprache, insbesondere der koptischen wissenschaftlichen Texte, Rechtsurkunden und Inschriften sowie des griechisch-ägyptischen und des arabisch-koptischen Sprachkontakts. Weitere Informationen