Davidstern aus der Synagoge Rykestrasse Berlin (Quelle: Tobias Barniske)

1. Ihr Fach gehört zu den sogenannten kleinen Fächern. Bitte stellen Sie uns Ihr Fach in wenigen Sätzen vor.

"Jüdische Theologie ist der Versuch, den tieferen Sinn der jüdischen Religion beständig neu zu durchdenken", befand der britische Rabbiner Louis Jacobs. Die Studierenden werden dazu angeregt, sich mit theologischen und ethischen Fragestellungen auseinanderzusetzen und diese im Umfeld aktueller wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskurse zu kontextualisieren. Insofern "Jüdische Theologie" mit der Judaistik verbunden ist, kann man es zu den "Kleinen Fächern" zählen. Gleichzeitig aber gehört es auch zu einem großen Fachgebiet, das für die Gründung und Entwicklung der Universitäten grundlegend gewesen ist. Durch die Pluralisierung der Theologien an den deutschen Hochschulen schätze ich, dass es aktuell um die 900 Lehrstuhlinhaber*innen in evangelischer, katholischer, islamischer und jüdischer Theologie geben dürfte. Das Fach Jüdische Theologie spannt einen Bogen von der Hebräischen Bibel über die theologischen Werke des Mittelalters zu den Denkern und Diskursen der Moderne; es behandelt das rabbinischen Judentum der Antike und des Mittelalters ebenso wie das moderne Judentum, das sich von Deutschland aus seit der Aufklärung in unterschiedliche Denominationen ausdifferenziert hat. Das Studium bietet Einblicke in die jüdische Religionspraxis in Geschichte und Gegenwart; die Studierenden erwerben grundlegende Kenntnisse der facettenreichen jüdischen Religionsgeschichte in ihrer gesamten 3000jährigen Entwicklung. Zu den inhaltlichen Schwerpunkten gehören Jüdische Religionsgeschichte und -philosophie, Hebräische Bibel und Exegese, Rabbinische Literatur, Halacha und Liturgie, Religionspädagogik und Homiletik, Geschichte der jüdischen Musik sowie Hebräisch und Aramäisch; intensive Sprachkurse ermöglichen schon in den ersten Semestern eine selbstständige Auseinandersetzung mit den antiken wie auch neuzeitlichen Quellen. Der in Europa einmalige Studiengang Jüdische Theologie ist als Ein-Fach-Bachelor bzw. Ein-Fach-Master konzipiert und steht Interessierten unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit offen; dank der Berufung von acht bekenntnisbezogenen Professuren und der Kooperation mit zwei Rabbinerseminaren ‒ dem liberalen Abraham Geiger Kolleg und dem konservativen Zacharias Frankel College ‒ ist eine Begegnung mit dem lebendigen Judentum in seiner ganzen Vielfalt gewährleistet. Im Wintersemester 2019/20 sind 160 Studierende eingeschrieben gewesen, von denen ein Sechstel sich auf das geistliche jüdische Amt vorbereitet. Dazu kommen derzeit zwölf Promovierende.

2. Bei der Jüdischen Theologie handelt es sich um ein relativ junges Fach. Bitte skizzieren Sie den Hintergrund der Etablierung des Fachs an Ihrer Universität oder deutschlandweit.

Das Fach selbst ist in den 1830er Jahren in Verbindung mit der "Wissenschaft des Judentums" als neue akademische Disziplin entstanden, entwickelte sich aber infolge der Ressentiments christlicher Theologen und der Obrigkeit zunächst außerhalb staatlicher Einrichtungen. Dem 1854 gegründeten Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau wurde 1931 von der preußischen Regierung gestattet, den Zusatz "Hochschule für jüdische Theologie" zu führen; es blieb aber wie die 1872 gegründete Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin eine private Einrichtung. Bis zu deren erzwungenen Schließung durch die Nationalsozialisten folgte man notgedrungen einem dualen System: die theologische Ausbildung erfolgte an den Seminaren, ein umfangreiches Studium Generale und der akademische Abschluss in einem benachbarten Fach wie Orientalistik oder Philosophie an der Universität Breslau oder der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Die deutsche Nachkriegsjudaistik steht in der Tradition der Wissenschaft des Judentums, was den philologischen und kulturhistorischen Anspruch angeht. Dennoch gibt es einen gravierenden Unterschied: während die Wissenschaft des Judentums eine Disziplin von Juden für Juden war, die unter anderem auch der Bewahrung der eigenen Identität diente, wird in der heutigen Judaistik Wert darauf gelegt, das Judentum von einem neutralen Standpunkt aus zu erforschen. Deswegen ist die Judaistik in der Philosophischen Fakultät angesiedelt und gehört nicht zu den theologischen Disziplinen. Ein wesentlicher Impuls für unsere Institutsgründung waren 2010 die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Rolle der religionsbezogenen Wissenschaften an der deutschen Universität. Mit der Eröffnung der School of Jewish Theology an der Universität Potsdam im November 2013 erfüllte sich nach fast zweihundert Jahren die Forderung nach der Gleichberechtigung der jüdischen Theologie mit den christlichen Theologien - im Kontext der Errichtung islamischer Theologie an deutschen Universitäten. Dabei entstand durch eine Bündelung der Ressourcen die erste fakultätsäquivalente jüdisch-theologische Einrichtung der deutschen Universitätsgeschichte. Um bekenntnisspezifische Berufungen zu ermöglichen, wurde das Brandenburgische Hochschulgesetz geändert.

3. Welche Rahmenbedingungen an Ihrem Fachstandort wirken sich wesentlich auf Ihre Lehr- und Forschungspraxis aus? Wie beurteilen Sie diese?

Der Studiengang Jüdische Theologie wird im Verbund mit dem Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg angeboten und profitiert von dem breiten Spektrum der Berliner Universitätslandschaft. Als wir 1999 das Abraham Geiger Kolleg zur Ausbildung liberaler Rabbiner und Rabbinerinnen als An-Institut der Universität Potsdam gründeten, kam uns zu Gute, dass dort Jüdische Studien mit Schwerpunkt in den Bereichen Religion und Philosophie, Geschichte und Literatur / Kultur gelehrt wurden und somit bereits ein breit gefächertes Lehrangebot vorhanden war. Mit der Jüdischen Theologie haben wir dann seit 2013 selbst Themen setzen können. Ein Beispiel ist mein Lehrstuhl für Jüdische Religionsphilosophie der Neuzeit, Schwerpunkt Denominationen und interreligiöser Dialog. Meine Mitarbeiter und ich befassen uns mit den geistigen Entwicklungen des Judentums seit der Emanzipation, die Grundlage war für die Herausbildung verschiedener religiöser jüdischer Strömungen und für einen verstärkten Austauschs des Judentums mit den Religionen der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft.

4. Was spricht Ihres Erachtens dafür oder dagegen, dass Ihr Fach in der Öffentlichkeit und innerhalb des deutschen Hochschulsystems angemessen wahrgenommen wird?

Das Interesse ist groß. Denn wir sind neben der Budapester Landesrabbinerschule die einzige akademische Ausbildungsstätte für Rabbiner in Kontinentaleuropa. Neben der Verschränkung von akademischer Lehre und religiöser Alltagspraxis kommen der Jüdischen Theologie in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem ihre Internationalität und ihre Interdisziplinarität zu Gute. Nur einige Beispiele. Unser Center of Jewish Law setzt religionsrechtliche Akzente für den innerjüdischen Diskurs und im interreligiösen Gespräch. Mit der Fortschreibung der historischen jüdischen Leben Jesu-Forschung werden wissenschaftliche Debatten angestoßen; dazu gehörte 2019 vor allem die Forderung nach einer Neubesinnung der Kirchen auf die jüdischen Wurzeln des Christentums und nach einer Neuformulierung der Christologie. Mit unserem Forschungs- und Publikationsprojekt Encyclopedia of Jewish-Christian Relations soll ein Überblick über die jahrhundertlange Tradition jüdisch-christlicher Interaktion bis in die heutige Gegenwart gegeben, und damit bis 2021 ein Standardwerk der interdisziplinären Forschung im Bereich jüdisch-christlicher Beziehungen geschaffen werden. Besonderes Augenmerk liegt auch auf der Stärkung der Biblischen Archäologie, die als eigener Fachbereich unter dem Dach der Jüdischen Theologie angeboten wird und in einem sechssemestrigen Studiengang mit einem Bachelor angeschlossen werden kann.

5. Haben Sie den Eindruck, dass die Vernetzung mit anderen Fächern einen Mehrwert für Ihr eigenes Fach bedeutet? Welche Kooperationsformen sind in diesem Zusammenhang für Sie interessant und mit Blick auf Ihren Fachgegenstand besonders geeignet?

Vernetzung und Kooperation sind wesentlich für die Herausarbeitung unseres Profils. Ein Beispiel ist die in Europa einmalige Professur für die Geschichte der jüdischen Musik, die wir in Zusammenarbeit mit der Musikhochschule Franz Liszt Weimar eingerichtet haben, um unsere Kantorenausbildung zu ermöglichen. An der Universität Potsdam wird das Fach Jüdische Theologie insbesondere von Studierenden der Jüdischen Studien und der Religionswissenschaft sowie vom Institut für Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde (LER als Teil der Lehrerbildung) wahrgenommen, die unsere Einführungs- und Überblicksveranstaltungen belegen. Wir arbeiten auch eng mit dem Institut für Slawistik im Bereich Osteuropäischen Kulturstudien zusammen. Ein besonderes Netzwerk ist das Forum Religionen im Kontext. Es dient der Vernetzung und Vertiefung der religionsbezogenen interdisziplinären Forschung und Lehre und deren Austausch mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen an der Universität Potsdam im Kontext gesellschaftlicher, kultureller und religiöser Heterogenität. Es versteht sich als Schnittstelle für die fakultäts‐ und disziplinübergreifende Wissenschaft, die mit religiösen Fragestellungen im weitesten Sinn befasst ist. Auf regionaler Ebene ist es das Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, das unser Institut mit sechs weiteren wichtigste Akteuren der wissenschaftlichen Untersuchung des Judentums in seinen religiösen wie kulturellen Ausprägungen verbindet. Auf internationaler Ebene pflegen wir eine Vielzahl von Kooperationen, darunter allein mit drei Universitätsinstituten in Polen, aber auch mit der Russischen Staatlichem Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau oder seit kurzem auch mit dem Jüdisch-Theologischen Seminar - Universität für Jüdische Studien in Budapest. Daneben nutzen wir Erasmus-Partnerschaften mit zwölf europäischen Universitäten. Ein ganz neues Feld eröffnet sich uns seit Oktober 2019 mit dem Projekt Forschen | Lehre - Digital (FoLD). Ausgehend vom aufstrebenden Netzwerk für Digitale Geisteswissenschaften an der Universität Potsdam erarbeitet ein interdisziplinäres Konsortium von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Informatik, Jüdischer Theologie, Kulturwissenschaft und Philologien mit Unterstützung durch das Qualitätsmanagement digitale Fachkonzepte, mit denen methodische Neuerungen aus der Forschung auf die Lehre transferiert werden. Zu den Zielen des Vorhabens gehört, aus dem Vergleich der fachspezifischen Ansätze jeweils konkrete Vorschläge zur Differenzierung von fachintegrierten bzw. fachübergreifenden Kompetenzen zu erarbeiten. Anhand von zwei Veranstaltungen, einem Sprachkurs und einem Philosophieseminar, sollen im Laufe der nächsten drei Jahre didaktische Konzepte entwickelt werden, in denen traditionelle Lehr- und Lernmethoden mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen ‒ auch aus dem digitalen Bereich - kombiniert und erprobt werden.

6. Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Fachs? Welche Entwicklungen und Herausforderungen zeichnen sich für Sie ab? Was wäre Ihres Erachtens für eine positive Entwicklung Ihres Fachs hilfreich?

Ein Meilenstein wird die Fertigstellung des für die School of Jewish Theology und die beiden Rabbinerseminare gestalteten Gebäudekomplexes auf dem Campus am Neuen Palais sein. Damit haben wir ab 2021 ein europäisches Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit. Jeder Lehrstuhl an der School of Jewish Theology setzt eigene Akzente in Lehre und Wissenschaft; die Internationalität und die damit verbundene Mehrsprachigkeit meiner Kollegen und Kolleginnen erlaubt es uns bereits jetzt, viele Lehrveranstaltungen auf Englisch anzubieten. Es ist nur naheliegend, dass wir demnächst auch einem englischsprachigen Master-Studiengang Jewish Theology einrichten. Im Übrigen gilt es, Fachbereiche wie Jüdisches Recht, Biblische Archäologie und Religionspädagogik oder auch die außerhalb der USA einmalige Forschungsprofessur Neues Testament in jüdischer Perspektive weiter auszubauen, Erasmus-Austauschprogramme und DAAD-Gastprofessuren noch intensiver zu nutzen und dafür Sorge zu tragen, dass noch mehr nichtjüdische Studierende das Fach Jüdische Theologie als Zugang zu einer Vielzahl von gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Bereichen erkennen und nutzen. Jüdische Theologie bedeutet für uns auch, Diversität zu lehren und zu lernen. Ein Desiderat wäre auch die Einrichtung einer Forschungsstelle für feministische jüdische Theologie: die Frage nach der Rolle von Frauen im geistlichen Amt war bereits Thema einer internationalen Tagung unseres Instituts zu "Gender and Religious Leadership: Women Rabbis, Pastors, and Ministers". Mit Blick auf die Bedürfnisse der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und darüber hinaus spielt auch die Stärkung des Fachbereichs Praktische Theologie eine immer wichtigere Rolle. Zu dem Bereich gehören die vier Fachdisziplinen Religionspädagogik, Homiletik, Seelsorge und Gemeindeaufbau. Lernziel ist eine handlungsrelevante Vermittlung von Wissen und Kompetenzen in den einzelnen Disziplinen. Das bedeutet womöglich auch die Erweiterung des Curriculums um den Bereich Spiritual & Pastoral Care, dem ich auch die neue jüdische Militärseelsorge zurechne. Zugleich wird das digitale Lehren und Lernen an Bedeutung zunehmen. Moderne jüdische Theologie muss in jedem Fall so wie jede Disziplin des Denkens ihre Aufgabe für sich und für ihre Adressaten immer wieder aufs Neue definieren.

Walter Homolka (Quelle: Jean Ehret)

Rabbiner Walter Homolka BD, MPhil, PhD, PhD, DHL ist Professor für Jüdische Religionsphilosophie der Neuzeit und Geschäftsführender Direktor der School of Jewish Theology an der Universität Potsdam. Der Rektor des Abraham Geiger Kollegs leitet auch das Zacharias Frankel College, beides An-Institute der Universität Potsdam. Weitere Informationen zur Person, zur School of Jewish Theology