Die Islamwissenschaft beschäftigt sich mit Religion und Kultur muslimischer Gesellschaften und Gruppen der Vergangenheit und Gegenwart. Sie ist dabei nicht theologisch ausgerichtet, sondern ist durch eine methodische Pluralität gekennzeichnet, die neben religionswissenschaftlichen auch historische, kunstgeschichtliche und literaturwissenschaftliche Ansätze (um nur einige zu nennen) umfasst. Gegenstände der Islamwissenschaft sind somit die Architektur im muslimischen Spanien des 9. Jahrhunderts ebenso wie die Rechtspraxis in Ägypten des 13. Jahrhunderts, die persische Literatur des 17. Jahrhunderts und muslimische Religionsverbände in Deutschland der Gegenwart. Die Islamwissenschaft ist also ein genuin interdisziplinäres Fach, das sich im starken Maße über Kompetenzen in relevanten Sprachen (Arabisch, Türkisch, Persisch, Kisuaheli etc.) definiert.
Berlin besitzt ein starkes Netz an einschlägigen wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen, die Forschung und Lehre in vielfältiger Weise bereichern. Zu den kulturellen Einrichtungen gehören etwa die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz mit der bundesweit größten Sammlung arabischer, persischer und osmanisch-türkischer Handschriften in der Orientabteilung, mehrere Museen mit relevanten Sammlungen und Ausstellungen (an erster Stelle das Pergamonmuseum), das Haus der Kulturen der Welt und viele andere. Auf wissenschaftlicher Ebene bestehen enge Kooperationen, häufig in Personalunion, mit der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies, dem Zentrum Moderner Orient (ZMO), den kultur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Instituten an der Freien Universität und der Humboldt-Universität zu Berlin, anderen universitären Einrichtungen sowie dem Wissenschaftskolleg, dem Forum Transregionale Studien und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Die umfangreiche Stiftungs- und Presselandschaft sowie die vielen national und international tätigen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen bieten darüber hinaus vielfältige Möglichkeiten, islamwissenschaftliches Wissen in die Praxis umzusetzen.
Die Islamwissenschaft beschäftigt sich mit Regionen (insbesondere dem Nahen Osten) und Themen (etwa dem Umgang der deutschen Öffentlichkeit mit dem Islam in Deutschland), die in den letzten Jahrzehnten zunehmend im öffentlichen Interesse stehen. Entsprechend hat die Islamwissenschaft relativ wenig Probleme, wahrgenommen zu werden. Diese Entwicklung war in vielerlei Hinsicht positiv, so zum Beispiel durch den Anstieg der Studierendenzahlen. Jedoch besteht die Gefahr, dass weniger "relevante" Forschungstraditionen in der Islamwissenschaft, wie etwa die philologische Arbeit, marginalisiert werden. Eine grundlegende Herausforderung in der Wahrnehmung des Faches sind die stark eurozentrischen Schulcurricula. Dadurch, dass viele Schüler*innen muslimischer Geschichte und Kultur nur sehr bedingt begegnen, nehmen sie die Islamwissenschaft, trotz des weiten regionalen und thematischen Gegenstands, oft als ein "Orchideenfach" wahr. Ein stärkeres Bewusstsein für die Bedeutung dieser Regionen und Themen, jenseits von medialen Aufgeregtheiten, würde es erleichtern, die Relevanz dieses Faches in seiner vollen Breite im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Auch wenn das Fach in der Ausstattung zu den Kleinen Fächern gehört, ist es dem weiten regionalen und thematischen Gegenstand nach eben eher eines der großen Fächer.
Als genuin interdisziplinäres Fach greift die Islamwissenschaft, je nach Gegenstand oder Spezialisierung, auf die Methoden der jeweiligen Fachdisziplin(en) zurück. Traditionell bezog sich dies vor allem auf Philologie, Geschichte, Recht, Religions- und Literaturwissenschaft, zunehmend gewinnen aber auch die Politik- und Sozialwissenschaften an Bedeutung. Entsprechend steht außer Frage, dass eine Vernetzung mit anderen Fächern essentiell für die Entwicklung des Fachs ist. Der deutsche Trend zur Verbundforschung hat sich hierbei grundsätzlich positiv ausgewirkt, da bei Netzwerkgruppen oder Sonderforschungsbereichen islamwissenschaftliche Kompetenz regelmäßig eingebunden wird. In der Praxis der Verbundforschung besteht aber die Problematik, dass "Kleine Fächer" häufig die Rolle der Juniorpartner einnehmen, wenn die Mehrzahl der Fächer aus den (ausstattungsmäßigen) großen (de facto oft "europawissenschaftlichen") Disziplinen kommen. Entsprechend sind Kooperation von Kleinen Fächern, wie in dem Exzellenzcluster "Africa Multiple" an der Universität Bayreuth, besonders vielversprechend, um den fachspezifischen Forschungstraditionen und -bedürfnissen unserer Fächer gerecht zu werden.
Die Islamwissenschaft ist in ihrem Bestand nicht unmittelbar gefährdet. Sie ist an allen größeren deutschen Universitäten vertreten, üblicherweise mit 2 Professuren und einer entsprechenden Zahl an wissenschaftlichen Mitarbeitern und Lektoren.
Für die nähere Zukunft gibt es jedoch drei Veränderungen, die einen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Fachs haben werden:
1) Die Einrichtung mehrerer Institute für Islamische Theologie an deutschen Universitäten bietet Chancen und Risiken für das institutionelle Umfeld. Die Zunahme an Professuren in einem eng verwandten Fach eröffnet neue Möglichkeiten der Kooperation und wird hoffentlich zu einer Stärkung beider Fächer führen. Andererseits besteht das Risiko, dass trotz der dezidiert anders gelagerten methodischen und auch thematischen Verortung die Zukunft eines dieser beiden Fächer an einem Standort bei zukünftigen Sparrunden in Frage gestellt wird.
2) Das öffentliche Interesse an gegenwartsorientierten Themen wird zu einer Stärkung der Lehre und Forschung in diesen Bereichen führen. Dies kann durch die Schaffung neuer Stellen erfolgen (wie an der FU Berlin) oder durch eine thematische Neuausrichtung bestehender Stellen. Sollte von letzterer Option weiträumig Gebrauch gemacht werden, besteht die Gefahr, dass bestehende Forschungstraditionen der deutschen Islamwissenschaft vollständig wegbrechen und die historische Tiefe verloren geht.
3) Durch die Einführung des getrennten BA und MA Studiums sind die Zahlen im MA Bereich an einigen Standorten signifikant gesunken. Diese Entwicklung geht auf zahlreiche Faktoren zurück und hierauf zu reagieren könnte das Fach grundlegend ändern. Zum Beispiel kann die Islamwissenschaft durch ihre Sprachanforderungen in "seltenen" Sprachen nicht ausreichend Studierende aus anderen Fächern aufnehmen, um den Weggang eigener Studierender zu kompensieren. Da aber die Sprachkompetenzen das Fach im starken Maße definieren, hätte eine Aufweichung der Aufnahmekriterien in diesem Bereich weitreichende Folgen für den Lehrbetrieb.
Ein grundlegendes Problem bei der Attraktivität des jeweiligen MA Programms ist, dass die Professuren an einem bestimmten Standort immer nur einen kleinen Ausschnitt des regional und thematisch sehr breiten Gegenstandsbereich abdecken können. Während die jeweilige Spezialisierung an einem gegebenen Standort für ein MA Angebot mit größeren Studierendenzahlen zu eng sein mag, wäre ein Verlust dieser Spezialisierungen in der universitären Lehre sehr bedauerlich. Eine Lösungsmöglichkeit wäre, Kurse vermehrt in der online Lehre anzubieten, so dass sie auch von Studierenden an anderen Standorten belegt werden können.
Konrad Hirschler ist seit 2016 Professor für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zuvor war er Professor für Middle Eastern History an der School of Oriental and African Studies (London). Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Sozial- und Kulturgeschichte der arabischen Welt.