((c) Sarah Nic)

Die allgemeinste Definition der Glaziologie ist die Lehre vom gefrorenen Wasser der Erde. Heute wird für diesen Überbegriff der Studien von Schnee, Gletschereis, Meereis, Grundeis, Permafrost und anderen Eisarten aber meistens der Begriff Kryologie oder Kryossphärenwissenschaften ("cryospheric sciences") verwendet.

Der Begriff Glaziologie ist spezifischer gefasst und wird meistens synonym der Bedeutung Gletscherkunde verwendet. Die Glaziologie im engeren Sinne untersucht "die Eiskörper von den kontinentalen Eisschilden bis hin zu individuellen Gletschern mit dem Ziel, ihre Entstehung, Dynamik und Veränderung zu verstehen. Unter anderem werden numerische Modelle eingesetzt, um Gletscherprozesse und ihre Reaktion auf klimatische Randbedingungen zu simulieren. Grundvoraussetzung ist eine möglichst gute Kenntnis von Höhen und Höhenänderungen, Fließgeschwindigkeiten und Massenbilanzen der Gletscher, Eisfelder und kontinentalen Eisschilde" (Zitat Deutsche Gesellschaft für Polarforschung).

Glaziologie als Fach wird in Deutschland nur an sehr wenigen Standorten gelehrt, meistens auch nur als Teil von anderen Themengebieten wie beispielsweise den Geowissenschaften. Das einzige Modul Glaziologie existiert an der Universität Bremen, das zwei Semester umfasst und den Bogen von der Theorie bis hin zu Geländeübungen umfasst. Die wichtigste Rahmenbedingung dafür ist die räumliche Nähe zum Alfred-Wegener-Institut (AWI), dem Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Dort wurden glaziologische Studien seit 40 Jahren zunächst als Teil der Geophysik, später auch in einer eigenen Sektion durchgeführt. Die Nähe zum AWI erlaubt es zum einen, in Bremen zwei Hochschullehrende mit der Denomination "Glaziologie" im Namen zu haben, da diese als gemeinsame ProfessorInnen am AWI und der Universität Bremen tätig sind. Zum anderen wurde es erst durch diese Unterstützung aus dem Bereich der außeruniversitären Forschung möglich, Belange des Fachs Glaziologie im entsprechenden Fachbereich zu vertreten und die angemessene Lehre auf- und auszubauen. So sind auch die beiden anderen Professuren für Glaziologie in Göttingen und Tübingen Kooperationsprofessuren des AWIs. Dies zeigt die große Bedeutung außeruniversitärer Forschungseinrichtungen für das Fach.

Nicht nur Gebirgsgletscher, sondern auch die Eismassen Grönlands und der Antarktis sind keine trägen oder gar starren Gebilde, sondern überraschend veränderbar. Sie stehen mit ihrer Umwelt - das heißt in erster Linie mit dem Meer und der Atmosphäre - in ständiger Wechselwirkung und reagieren auf deren Veränderungen deutlich schneller als man dies noch vor 25 Jahren geglaubt hätte. Heutzutage versetzen uns verbesserte Forschungstechnik sowie moderne satellitengestützte Beobachtungssysteme in die Lage, die Eismassen sowohl vor Ort grundlegend zu untersuchen als auch aus der Ferne immer im Blick zu behalten. Auf diese Weise haben wir ein solides Verständnis für ihre Rolle im Klimasystem der Erde entwickelt und können die Ursachen ihres Wandels besser nachvollziehen.

Diese Aussage gilt sowohl für die Vergangenheit, die von Wechseln zwischen Kalt- und Warmzeiten geprägt war, als auch für die Gegenwart, in welcher die menschengemachte Erderwärmung alle bislang bekannten Geschwindigkeitsrekorde bricht. Genau hier setzen die aktuellen Fragestellungen der Glaziologie an:

Wie schnell werden Eisschilde auf einen wärmeren Ozean reagieren?

Wie wirkt sich Eisschmelze an der Oberfläche der Gletscher und Eisschilde auf ihre Massenbilanz aus - schmilzt mehr Eis als sich durch Schneefall neu bildet?

Welche Rolle spielen die Bedingungen an der Eisunterseite für die zum Teil rasant fließenden Eisströme und wie haben sich diese in der Vergangenheit verändert?

Wo können wir das älteste Eis finden, mit welchem wir Rückschlüsse auf das Klima der Vergangenheit vor mehr als einer Million Jahren ziehen können?

Für all diese Fragen sind Beobachtungen vor Ort sowie die Modellierung unerlässlich. Angefangen von der Bestimmung der Eisdicke über die Rekonstruktion des Klimas aus Eiskernen bis hin zur Bestimmung der Kristallorientierung in großen Tiefen und der Beschaffenheit des Untergrundes unter dem Eis, die beide für das Fließverhalten des Eises von großer Bedeutung sind. Am Ende hoffen wir Schlussfolgerungen ziehen zu können, wie sich die Eismassen in den nächsten Jahrzehnten unter fortschreitender Erwärmung verhalten werden - und welche Gefahren dabei von ihnen ausgehen.

Ein wichtiger Teil der glaziologischen Arbeit besteht daher auch darin, die aktuellen Ergebnisse der breiteren Öffentlichkeit vorzustellen und so in die Gesellschaft zu tragen. Gleichermaßen ist die aktuelle Forschung auch Teil des Lehrplans und bringt diese den Studierenden anschaulich Nahe. An Hand von aktuellen Problemen wird die Dringlichkeit vermittelt, sich mit der Thematik fundiert zu befassen, sei es für eine verbesserte Vorhersage des Meeresspiegelanstiegs, der Entwicklung des Schmelzwasserabflusses von Gletscher, die v.a. in ariden Gebieten einen wichtigen Teil der Wasserverfügbarkeit in der Trockenzeit bestimmt, oder zur Vorsorge vor Naturgefahren, die mit dem zunehmenden Gletscherrückzug in alpinen Regionen zunehmen. Neben der öffentlichen Wahrnehmung ist es damit natürlich auch wichtig, den geeigneten Nachwuchs im Bereich der Wissenschaft, aber auch im Bereich der Wirtschaft bereitzustellen.

Auch wenn die Glaziologie als Fach weiterhin nicht eigenständig ist, so ist sie seit ihrem Entstehen innig mit anderen Disziplinen vernetzt, z.B. der Geodäsie, Geophysik, Geographie, Physik, Meteorologie und weiteren. Für die in der Glaziologie verwendeten diversen Methoden, angefangen von Eiskernanalytik aus dem Bereich der Chemie bis hin zur Vermessung von Eisschilden mit planetaren geodätischen Verfahren, war bisher eine fundierte Grundausbildung in der entsprechenden Disziplin maßgeblich, die im späteren Verlauf des Studiums auf die glaziologischen Themen angewendet werden konnte. Diese Form der Vernetzung war für die fortwährende Entwicklung der Glaziologie wichtig, weil auf diese Art auch Neuerungen in anderen Fächern zügig den Eingang in die Glaziologie selber gefunden haben.

Mit der zunehmenden Relevanz des Faches Glaziologie im Zuge der fortschreitenden Klimaerwärmung, der Intensivierung der Forschung und des Zugewinns an Wissen insbesondere in den letzten 20 Jahren, zeigt sich aber auch, dass die Glaziologie vom Umfang her mittlerweile z.B. mit dem der physikalischen Ozeanographie vergleichbar ist. Zur Beantwortung der aktuellen Fragen - z.B. "Um wie viele Meter wird der Meeresspiegel in den nächsten Jahrzehnten bis Jahrhunderte steigen und wie schnell?" - wäre es daher wichtig, die Ausbildung im Fach Glaziologie in angemessener Form zu stärken. Eine Kooperation mit den entsprechenden Fachbereichen ist aus glaziologischer Sicht daher insbesondere im Bereich der Masterstudiengänge wichtig. Von der Seite der Forschung wird häufiger jedoch in der Ausbildung eine ausreichende Kenntnis der naturwissenschaftlichen und v.a. auch mathematischen Grundlagen vermisst - sowohl für beobachtende und analytische Methoden als auch für den Bereich der numerischen Modellierung. Das spräche wiederum dafür, bereits in den Bachelorstudiengängen den Ausbildungs-Bedarf auch spezifisch mit den entsprechenden Fachbereichen zu klären und nach Möglichkeit mit anderen Fächern, die sich mit einer ähnlichen Problematik in der Ausbildung auseinandersetzen müssen, auf gemeinsame Standards zu verständigen.

Die Zukunft des Faches Glaziologie wird bestimmt durch die sozio-ökonomischen Herausforderungen, die mit der Klimakatastrophe einhergehen. Dazu gehören die o.g. Naturgefahren und die Rolle der Gletscher als Wasserspeicher für Nutzwasser, aber v.a. für den Meeresspiegel. Der letzte (sechste) Sachstandsbericht des Weltklimarates (IPCC AR6, 2013) verdeutlichte wieder einmal mehr, dass die Unsicherheiten der zukünftigen Entwicklung des Meeresspiegelanstiegs unmittelbar mit unserem unzureichenden Verständnis der Eisdynamik der großen Eisschilde zusammenhängen. So ist zwar die Zukunft der Gebirgsgletscher und deren vergleichsweise kleiner Beitrag zum Meeresspiegelanstieg sehr verlässlich verstanden und prognostizierbar, aber die Entwicklungen der Eisschilde in Grönland und der Antarktis stellen die Glaziologie weiterhin vor enorme Herausforderung in allen Bereichen - Beobachtungen, Prozessverständnis, Modellierungen, Prognosen. Die Unsicherheiten betragen z.B. für das Jahr 2100 ca. 100%, mit werten von mittlerweile unrealistischen 20 cm mittleren globalen Meeresspiegelanstieg im besten Fall, über einen Mittelwert von ca. 80 cm bis hin zu 1,5 m. Für das Jahr 2300 liegen die Werte des Meeresspiegelanstiegs noch weiter auseinander und können für das gleiche Klimaszenario 2, 3 oder auch 15 m betragen. Diese starke und verwunderliche Streuung des Wertebereichs ist alleine auf die unverstandenen Prozesse der Eisschilddynamik zurückzuführe. Vor diesem Hintergrund sehen wir zwar die Notwendigkeit, die Ausbildung im Bereich der Glaziologie zu stärken, gleichermaßen gibt es aber auch Hindernisse, die angegangen werden müssen. Hierzu gehört z.B. die aus Gründen der verfügbaren Ressourcen zögerliche Haltung im Bereich der Erdsystemmodellierung, wirklichkeitsnahe Implementierungen von glaziologischen Komponenten in die Modelle zu integrieren oder auch eine verlässliche Finanzierung von glaziologischen Langzeitbeobachtungen. Würden diese Aspekte gesichert, so wäre in den kommenden Jahrzehnten hinreichend dringend zu leistende Arbeit im Bereich der Glaziologie vorhanden.

((c) AWI, Foto: Ladina Steiner)

Olaf Eisen ist Wissenschaftler am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, und lehrt seit 2014 Glaziologie und der Universität Bremen. Aktuell ist er deutscher Repräsentant der Internationalen Vereinigung der Kryosphärenwissenschaft innerhalb der Internationalen Union für Geophysik und Geodäsie und fungierte im Zeitraum 2013 bis 2017 als Vizepräsident und 2017 bis 2021 als Präsident des Bereichs Kryosphärenwissenschaft der Europäischen Geowissenschaftlichen Union. Zu Professor Eisens Forschungsschwerpunkten zählt die Anwendung von glaziologischen und geophysikalischen Methoden im Feld auf zeitgemäße kryosphärische Probleme, insbesondere verknüpft mit dem Klimawandel. Dies beinhaltet die Massenbilanz von Eisschilden, die Beziehung von Eisdynamik zu atmosphärischem und ozeanischem Antrieb ebenso wie zur festen Erde, und Rekonstruktion der Paläobedingungen der Eisschilde und des Klimas aus Eiskerndaten. Weitere Informationen