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Die Medizinethik beschäftigt sich mit moralischen Fragen rund um Medizin und Gesundheitsversorgung: Was macht einen guten Arzt bzw. eine gute Ärztin aus? Welche Rechte haben Patientinnen und Patienten im Kontext medizinischer Behandlung? Wie sieht eine faire Verteilung im Gesundheitswesen aus? Inwiefern sind staatliche Eingriffe in die individuelle Selbstbestimmung zugunsten der Gesundheit der Gesamtbevölkerung gerechtfertigt? Wie sind Chancen und Risiken biomedizinischer Innovationen wie der Stammzelltherapie oder der Genomeditierung zu bewerten? Mit ihrer Forschung zu solchen Fragen trägt die Medizinethik zu einer wissenschaftlich fundierten und differenzierten Auseinandersetzung mit den normativen Grundsätzen und der wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung von Medizin und Gesundheitswesen bei. Dabei verbinden wir Ansätze philosophischer Ethik auch mit Methoden empirischer Sozial- und Kulturforschung, um Perspektiven von Betroffenen und Stakeholdern sowie konkrete institutionelle Rahmenbedingungen und soziokulturelle Kontexte medizinischer Praxis berücksichtigen zu können. In der Lehre sind wir insbesondere dafür verantwortlich, Medizinstudierende für moralische Belange ihrer späteren ärztlichen Berufspraxis zu sensibilisieren und sie zu einem reflektierten, argumentativ begründeten Umgang mit den sich daraus ergebenden Fragen und Problemen zu befähigen.
Oldenburg ist ein junger universitätsmedizinischer Standort. Es gibt uns jetzt seit etwas mehr als zehn Jahren. Da ist immer noch viel in Bewegung, es gibt allerhand aufzubauen und zu gestalten. Zugleich herrscht ein ungemein kollegialer, kooperativer Spirit. Allen ist klar: Wir müssen an einem Strang ziehen, damit es voran geht. Für eine medizinische Fakultät sind wir dabei außerordentlich interdisziplinär aufgestellt: Neben der Humanmedizin gibt es Departments für Medizinische Physik und Akustik, Neurowissenschaften, Psychologie und Versorgungsforschung. So ergeben sich einerseits Beziehungen in die konkrete klinische Praxis in den verschiedenen Krankenhäusern, andererseits aber auch zu anderen, geistes-, sozial- und natur- bzw. ingenieurswissenschaftlichen Fakultäten. Drum herum erstreckt sich zudem ein ganzes Netzwerk von Ausgründungen und außeruniversitären Einrichtungen wie etwa dem OFFIS oder dem Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst. Auch zur nahe gelegenen Universität Groningen in den Niederlanden bestehen enge Kooperationsbeziehungen. All das macht die Arbeit hier gerade für mich als Nichtmediziner an einer medizinischen Fakultät äußerst attraktiv und interessant.
In der Medizinethik geht es um existenziell grundlegende Erfahrungen, die letzten Endes jeden und jede von uns betreffen: Geburt, Entwicklung, Gesundheit und Krankheit, Behinderung, Fortpflanzung, Altern, Sterben und Tod – unser ganzes Leben spielt sich heute im Einzugsbereich von Medizin und Gesundheitsversorgung ab und wird wesentlich durch medizinische Perspektiven, Praktiken und Settings geprägt. Darüber hinaus geht es vielfach auch um Fragen, die über die individuelle Arzt-Patienten-Beziehung hinausweisen und von allgemeinem, öffentlichem Interesse sind. In medizinethischen Debatten über Schwangerschaftsabbruch oder Sterbehilfe wird letztlich das Verhältnis von gesellschaftlich grundlegenden Werten und Normen wie individueller Selbstbestimmung und allgemein verbindlichem Lebensschutz ausgehandelt. In Diskussionen über die Reichweite öffentlicher Gesundheitsversorgung geht es letztlich um die gerechte Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen. Und wenn wir über Chancen und Risiken medizinisch-technischer Möglichkeiten wie etwa Eingriffen in die menschliche Keimbahn diskutieren, hat das sogar Bedeutung für zukünftige Generationen. In der COVID-19-Pandemie war diese gesellschaftlich-politische Tragweite der Medizinethik geradezu mit Händen zu greifen, ob nun über die Legitimität von Freiheitseinschränkungen zugunsten des Infektionsschutzes, über die Reihenfolge des Zugangs zu knapp werdenden lebensrettenden Beatmungsplätzen oder über die Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht diskutiert wurde. Tatsächlich spielen neben Forschung und Lehre auch „Third Mission“-Aktivitäten in unserem Bereich eine zunehmend wichtige Rolle, insbesondere Politikberatung und Wissenschaftskommunikation. Wir sind ein kleines Fach mit großer Wirkung.
Die Vernetzung mit anderen Fächern ist der Medizinethik sozusagen in die Wiege gelegt. Wir sind von Haus aus interdisziplinär, stehen immer mit einem Bein in der Medizin, der Gesundheitsversorgung und den Lebenswissenschaften und mit dem anderen in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Insofern stellt Vernetzung für uns nicht einfach nur einen optionalen Mehrwert dar. Ohne sie gäbe es uns schlicht überhaupt nicht. Wir sind die gelebte Vernetzung. Tatsächlich kommen Medizinethikerinnen und Medizinethiker aus ganz unterschiedlichen fachlichen Kontexten: Medizin, Naturwissenschaften, Philosophie, Theologie, Soziologie oder Gesundheitswissenschaften. Darum sind wir auch besonders erfahren und versiert, wenn es um den Brückenschlag zwischen unterschiedlichen Fächern und Fakultäten geht. Der ergibt sich nämlich keineswegs von selbst. Wissenschaft ist gerade in Deutschland stark entlang traditioneller Grenzziehungen zwischen Fächern und Fakultäten organisiert. Der Trend zur Ausdifferenzierung und Spezialisierung verstärkt das zum Teil noch. In vielen Arbeitszusammenhängen steht uns dieses überkommene wissenschaftliche Grenzregime inzwischen allerdings oft eher im Weg. Gerade in der Medizinethik verfügen wir schon aufgrund unserer jeweils unterschiedlichen wissenschaftlichen Hintergründe und akademischen Werdegänge über einen reichen Fundus an Erfahrungen und Präzedenzen des erfolgreichen Auf- und Ausbrechens aus fachlichen Beschränkungen und der – manchmal zunächst ganz unwahrscheinlich anmutenden – interdisziplinären Verständigung und Zusammenarbeit.
Die universitätsmedizinischen Standorte bilden die wesentliche institutionelle Verankerung der Medizinethik in Deutschland. Hier hat in den vergangenen Jahrzehnten die entscheidende Auf- und Ausbauarbeit stattgefunden. Eine wichtige Rolle hat dabei nicht zuletzt die Gründung unserer Fachgesellschaft, der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM), im Jahr 1986 sowie die Änderung der ärztlichen Approbationsordnung im Jahr 2002 gespielt, mit der der Querschnittsbereich „Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin“ (GTE) zu einem verpflichtenden Bestandteil der medizinischen Ausbildung wurde. Auch an philosophischen und theologischen Fakultäten sind vereinzelt Professuren für Medizinethik zu finden. Daneben gab oder gibt es auch einige außeruniversitäre Einrichtungen in öffentlicher oder kirchlicher Trägerschaft. Zunehmend wichtig ist überdies die ganze Landschaft außeruniversitärer Beratungsgremien auf dem Gebiet von Medizin und Gesundheitsversorgung. So gibt es in vielen Krankenhäusern mittlerweile Klinische Ethikkomitees, die bei moralischen Konflikten im klinischen Alltag beraten, vermitteln und moderieren, etwa wenn es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Behandelnden und Angehörigen über die Fortsetzung einer lebenserhaltenden Behandlung kommt. Darüber hinaus sind nicht nur an den medizinischen Fakultäten, sondern auch bei den Ärztekammern Ethikkommissionen angesiedelt, die für die vorgeschriebene ethische Beratung medizinischer Forschungsvorhaben am Menschen verantwortlich sind: Werden Probandinnen und Probanden z.B. angemessen aufgeklärt? Welchen Risiken und Belastungen werden sie ausgesetzt? Wie ist mit den gewonnenen Forschungsdaten umzugehen? Und schließlich sind hier auch Gremien der ethischen Politikberatung wie der Deutsche Ethikrat zu nennen, der die Bundesregierung und den Deutschen Bundestag in ethischen Fragen mit Bezug zu Medizin und Lebenswissenschaften berät, etwa zur Neuregelung des assistierten Suizids oder dem Umgang mit Transidentität bei Kindern und Jugendlichen.
Ich blicke zuversichtlich in die Zukunft. Unsere Themen sind existenziell grundlegend und zugleich aktuell, und unsere Arbeit ist gesellschaftlich wie auch politisch überaus relevant. Bei vielen Problemen, die uns gegenwärtig auf den Nägeln brennen, ist medizinethischer Sachverstand gefragt, etwa mit Blick auf die Sicherung angemessener pflegerischer Versorgung in einer alternden Gesellschaft, den gerechten und nachhaltigen Umgang mit begrenzten Ressourcen im Gesundheitswesen oder den verantwortungsvollen Einsatz von Big Data, Robotik und Künstlicher Intelligenz in Medizin und Gesundheitsversorgung. Alles in allem kann man wohl sagen, dass die Medizinethik inzwischen weitgehend angekommen ist: Sie hat sich wissenschaftlich konsolidiert und universitär etabliert. Es gibt unterschiedliche theoretisch-methodologische Ansätze und Ausrichtungen, in Lehrbüchern und Ausbildungscurricula kanonisierte Wissensbestände, in akademischen Abschlüssen und Zertifikationsprogrammen fixierte fachliche Qualitätsstandards und mitunter fast schon scholastisch anmutende, hochgradig ausdifferenzierte Fachdebatten mit klar abgesteckten Standpunkten und argumentativen „Spielzügen“. Diese Entwicklungen sind im Sinne einer fortschreitenden „Verfachlichung“ unbedingt zu begrüßen. Allerdings müssen wir aus meiner Sicht auch ein bisschen aufpassen, dass wir dabei nicht in die Falle einer zunehmenden disziplinären Einkapselung und Sklerotisierung tappen. Wir sollten uns ein Stück weit auch unser „anarchisches“ Potenzial bewahren: die intellektuelle Beweglichkeit zwischen den Fächern und ihren unterschiedlichen Wissen(schaft)skulturen, die Bereitschaft zum gewagten theoretischen und methodologischen Experiment über Disziplingrenzen hinweg und den generalistischen Zug ins Weite und Offene.
Mark Schweda ist Philosoph und Medizinethiker. Er hat seit dem Jahr 2018 die Professur für Ethik der Medizin an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg inne. Zu seinen vorherigen akademischen Stationen zählen die Universitäten in Göttingen, Münster und Tübingen. Schwerpunkte seiner Forschungstätigkeit sind unter anderem Altern, Lebensverlauf und menschliche Zeitlichkeit, Technik und Digitalisierung sowie soziokulturelle Identität und Differenz in Medizin und Gesundheitsversorgung. Professor Schweda ist Mitglied des Deutschen Ethikrats und ist darüber hinaus vielfach als Herausgeber, Gutachter und Berater engagiert. Weitere Informationen