((C) Harald Arlander)

Ihr Fach gehört zu den sogenannten kleinen Fächern. Bitte stellen Sie uns Ihr Fach in wenigen Sätzen vor.

Die Computerlinguistik selbst ist ein Fachgebiet, das zwei Forschungsfelder bedient, die nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben. Die eine Form der Computerlinguistik versucht, mit Hilfe von Computern zu modellieren, wie Sprache funktioniert und damit dann eventuell auch dazu beizutragen, dass Sprache von Computern rezipiert oder generiert werden kann. Der andere Bereich beschäftigt sich mit computergestützten Methoden, mit deren Hilfe Sprachdaten in verschiedener Weise bearbeitet und analysiert werden können. Beide Bereiche weisen Sprache und Computer als Schnittstelle auf, und haben auch viele Überscheidungsbereiche, aber je mehr man in die eine oder die andere Richtung geht, desto unterschiedlicher werden die Forschungsfragen.

Wenn man die beiden Forschungsbereiche dann noch um die Multilingualität erweitert, dann erweitert sich der Interpretationsspielraum noch einmal mehr, da Multilingualität sich ja zum einen auf die Vielsprachigkeit von Individuen beziehen kann —- was beispielsweise die Frage, wie multilinguale Menschen Sprache verarbeiten, in den Vordergrund rücken würde, und zum anderen auf die Vielfalt von Sprache — was auf eine Computerlinguistik weisen würde, die sich nicht nur mit Englisch beschäftigt.

Ich bin froh um die Vielfalt an Auslegungen, die diese Disziplin zulässt. Auch in meiner Forschung beschäftige ich mich ja mit einer Vielzahl von verschiedenen Forschungsfragen. Mich interessiert klassische Sprachgeschichte genauso wie Fragen zur typologischen Struktur von Sprachen, ich arbeite zur Geschichte des Chinesischen genauso wie an der Entwicklung neuer Methoden zum Vergleich der Sprachen der Welt. Was meine Forschung eint ist, dass ich die Probleme immer mit Computern zu lösen versuche.

Welche Rahmenbedingungen an Ihrem Fachstandort wirken sich wesentlich auf Ihre Lehr- und Forschungspraxis aus? Wie beurteilen Sie diese?

Die Rahmenbedinungen empfinde ich als sehr gut. Meine Professur ist ja dank der Hightech-Agende in Bayern zustande gekommen, ich verdanke dieser Initiative also meine Professur, eine großzügige Ausstattung, und auch eine gute Vernetzung mit anderen Lehrstühlen, die aus der Hightech-Agenda entstanden sind. Man verlangt von uns dabei auch, uns zu vernetzen und uns einzubringen, was ich als großen Ansporn empfinde. Darüber hinaus habe ich für die ersten fünf Jahre eine geringere Belastung mit Lehre, weil ich den Ruf mit einem ERC Consolidator Grant angetreten habe, der mir zusätzliche finanzielle Mittel bis Ende 2027 bietet, und es mir ermöglicht, mich in den ersten fünf Jahren mehr auf die Forschung zu konzentrieren und ein Lehrangebot für mein Fach sukzessive an der Universität Passau aufzubauen und zu etablieren.

Der Standort Passau kämpft mit seiner relativen Ferne vom Rest von Deutschland. Wir haben deutlich weniger Menschen, die sich um Stellen bei mir bewerben, als in anderen Teilen Deutschlands, wo ich vorher gearbeitet hatte. Die Nachteile bergen aber eben auch die Chance, an einer relativ kleinen Universität etwas komplett Neues aufbauen zu können. Wenn es um Forschungsaufenthalte von Kolleginnen und Kollegen geht, ist Passau nämlich aufgrund seiner touristischen Attraktivitäten sehr beliebt. Ich kann mich daher nicht über mangelnden Besuch beklagen, was auch ein Vorteil ist, wenn man Konferenzen oder Workshops organisieren will.

Was spricht Ihres Erachtens dafür oder dagegen, dass Ihr Fach in der Öffentlichkeit und innerhalb des deutschen Hochschulsystems angemessen wahrgenommen wird?

Die Tatsache, dass mein Lehrstuhl eingerichtet wurde, dazu noch im Rahmen einer Agenda, die vor allem auf gesellschaftlichen Nutzen von Forschung abzielt, zeigt für mich, dass die Wahrnehmung des Faches an sich vorhanden ist. Man muss dazu aber auch sagen, dass die Computerlinguistik vor allem durch ihre auf technische Applikationen ausgerichtete Ausrichtung des Natural Language Processing kein Wahrnehmungsproblem aufweist. Die Konferenzen, die im Rahmen großer Organisationen wie Association for Computational Linguistics ausgeführt werden, sind um ein Vielfaches größer als Konferenzen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Wer wie ich multilinguale Ansätze verfolgt hat es zwar schwer, auf diesen Konferenzen wahrgenommen zu werden, und wir kämpfen oft mit unqualifizierten Gutachten, die unsere Arbeit ablehnen, weil es ihr an wirtschaftlicher Anwendung mangelt, aber dieser Kampf spornt uns natürlich auch an, unsere Argumente für unser Fach zu schärfen.

Als ich 2002 in Berlin anfinge, Vergleichende Sprachwissenschaft zu studieren, da lernte ich ein Fach kennen, welches nicht nur mit mangelnder Anerkennung zu kämpfen hatte, sondern sich in vielerlei Hinsicht schon aufgegeben zu haben schien. Lehrstühle, wie der, an dem ich in Berlin studierte, wurden geschlossen, und ich hatte ständig damit zu kämpfen, meine Studienwahl zu rechtfertigen, vor anderen Menschen und vor mir selbst. Als dann computergestützte Forschungsansätze die Vergleichende Sprachwissenschaft mit neuen Ideen zu bereichern, änderte sich das Bild. Nach wie vor ist die Anzahl an Lehrstühlen gering, aber Forschungsprojekte wurden bewilligt, unsere Arbeiten interessieren die Presse, viele junge Leute wurden ausgebildet an Computern und am Sprachvergleich, wie auch jetzt an meinem Lehrstuhl. Ich habe mit den Fächern, die ich studiert habe, also sehr genau kennengelernt, was mit kleinen Fächern geschehen kann, die es nicht schaffen, ihre Finanzierung durch die Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Das hat mich eine gewisse Demut gelehrt. Forschung braucht immer auch eine gewisse Akzeptanz aus der Öffentlichkeit, wer forscht sollte immer auch daran arbeiten, die eigene Arbeit fachfremden Menschen kommunizieren zu können.

Haben Sie den Eindruck, dass die Vernetzung mit anderen Fächern einen Mehrwert für Ihr Fach bedeutet? Welche Kooperationsformen sind in diesem Zusammenhang für Sie interessant und mit Blick auf Ihren Fachgegenstand besonders geeignet?

Unser Fach ist in großem Maße interdisziplinär ausgerichtet. Ich selbst forsche mit Vertretern unterschiedlichster Fachbereiche. Das reicht von der Bioinformatik über die Psychologie bis hin zu Informatik oder Sinologie. Die Kooperation findet dabei eigentlich immer projektbasiert statt. Wir wollen Probleme erforschen, tun uns zusammen, und veröffentlichen Forschungsergebnisse in der Form von Artikeln oder auch Datensätzen.

Welche Bedeutung haben außeruniversitäre (Forschungs-)Institute für Ihr Fach?

Die computergestützte Sprachforschung, die ich vertrete, hat sehr stark davon profitiert, dass von der Max-Planck-Gesellschaft eine Abteilung für sprachliche und kulturelle Evolution (Department of Linguistic and Cultural Evolution) zunächst am MPI für Menschheitsgeschichte in Jena etabliert wurde, die unter Leitung von Russell D. Gray dann an das MPI für Evolutionäre Anthropologie nach Leipzig wechselte. Auch ich habe dort von 2017 bis 2022 als unabhängiger Nachwuchsgruppenleiter gearbeitet, gefördert von einem ERC Starting Grant und später dann von einem unabhängigen Grant der MPI für Nachwuchsforscher. Die Abteilung wird in einigen Jahren geschlossen, wenn der Direktor in Rente geht, und es bleibt abzuwarten, ob die MPG sie in irgendeiner Form fortsetzen wird. Uns haben die 10 Jahre, die es die Abteilung schon gibt, aber sehr stark geholfen, die Prominenz der Forschung in der Öffentlichkeit zu steigern.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Faches? Welche Entwicklungen und Herausforderungen zeichnen sich für Sie ab? Was wäre Ihres Erachtens für eine positive Entwicklung Ihres Fachs hilfreich?

Ich habe vor zwei Jahren eine Liste mit offenen Problemen für meine eigene Forschung erstellt. Ich kann nicht sagen, dass ich diese systematisch versuche, abzuhaken, aber die Fragen beschäftigen mich doch fast täglich. Ich denke aber unabhängig von diesen kleinen Problemen, dass wir zwei sehr große Chancen für unser Fach haben, wobei es spannend sein wird, zu sehen, ob wir es schaffen, sie zu nutzen. Zum einen erhoffe ich mir von verbesserten Digitalisierungsmethoden einen Boom der Digitalisierung historischer Sprachdokumente, was vor allem auch viele Sprachsammlungen des 20. Jahrhunderts einschließt, die noch nicht systematisch digitalisiert wurden. Ähnlich dem Boom, den das Next Generation Sequencing in der Biologie auslöste, könnte diese Next Generation Digitization, die auf neueste, auch KI-gestützte Methoden zur Optical Character Recognition zurückgeht, die vorhandenen Daten zu den Sprachen der Welt erheblich vergrößern. Der zweite Bereich ist die automatische Transkription von gesprochener Rede, wobei es mir nicht um die Transkription von Videos geht, für die automatisch Untertitel erstellt werden — wie man es inzwischen von Videokanälen aus den Sozialen Medien kennt — sondern um die phonetische Transkription, die das Sprachsignal in klassische Lautschrift verwandelt, wie wir sie in der Linguistik verwenden. Diese Methoden, die in der Computerlinguistik meist als SpeechToText bezeichnet werden, würden die vielen Audioaufnahmen, die von der linguistischen Feldforschung auf der ganzen Welt durchgeführt wurden, aber in vielen Fällen nie komplett annotiert werden konnten, für uns erschließen und die digitalen Daten weiter ergänzen. Darüber hinaus könnte die Steigerung der Prominenz von Lautschrift auch zu einem Umdenken im Umgang mit KI beitragen, indem man beim Umwandeln von Schrift in gesprochene Rede durch Maschinen eine Technik fördert, die es uns erlaubt, zu diktieren, wie etwas ausgesprochen werden soll, so dass wir uns nicht länger blind darauf verlassen müssen, dass die jeweilige KI unseren Text auch richtig vorträgt.

Von der Gesellschaft und vor allem unseren Studentinnen und Studenten würde ich mir darüber hinaus erhoffen, dass sie Chat-Bots nicht nur anwenden wollen, sondern auch ein Interesse daran entwickeln, wie sie grundlegend funktionieren. Denn nur das wird auf Dauer dazu führen, dass wir die Technologie nicht nur blind übernehmen, sondern sie kritisch betrachten und uns von den großen Firmen, die schamlos die Existenz von Künstlern und Schriftstellern gefährden, indem sie sich den Regeln des Copyrights entziehen, nicht alles diktieren lassen. Die Aufgabe, hier Begeisterung zu entfachen, sehe ich jedoch auch direkt bei mir, da ich diese Inhalte ja auch in Teilen unterrichten kann und sollte.

Johann-Mattis List ((C) J.-M. List)

Johann-Mattis List hat seit dem Jahr 2023 den Lehrstuhl für Multilinguale Computerlinguistik an der Universität Passau inne. Vorherige akademische Stationen waren unter anderem die Universität Marburg, das Centre de Recherches Linguistique sur l'Asie Orientale (EHESS), die Université Pierre et Marie Curie und das Max-Planck-Institut für Geoanthropologie Jena. Zu Professor Lists Schwerpunkten in Forschung und Lehre zählen computergestützter Sprachvergleich, vergleichende Sprachwissenschaft, Sprachtypologie, chinesische Linguistik sowie die Entwicklung der Sprachen Südostasiens. In einem aktuellen, durch das European Research Council geförderten Forschungsprojekt unter dem Titel „Productive Signs. A Computer-Assisted Analysis of Evolutionary, Typological, and Cognitive Dimensions of Word Families“ widmet sich Professor Liust dem Verständnis von Wortfamilien durch Computermodellierung. Weitere Informationen