Am 20. und 21. Mai 2019 lud die Arbeitsstelle Kleine Fächer in Kooperation mit der VolkswagenStiftung Hannover zum Workshop „Fächer in Bewegung – Differenzierung und Entdifferenzierung im System der Wissen­schaft?“ ins  Schloss Herrenhausen in Hannover ein. Diskutiert wurde in einem Kreis von insgesamt fünfzig Teilnehmenden aus Wissenschafts- und Hochschulforschung, Hoch­schul­politik und Hochschulleitungen sowie aus den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften.


Den Ausgangspunkt des Workshops bildete die Diagnose, dass u.a. der Bologna-Prozess zu einer Locke­rung des engen Zusammenhangs zwischen wissenschaftlicher Disziplin, institutioneller Organisation, Studiengang und Denomination der Professur an den Hochschulen in Deutschland geführt hat. Deutlich zeigt sich dies insbesondere am Beispiel der sogenannten kleinen Fächer, die vielerorts über keine eigenen Fachstudiengänge und Institute mehr verfügen.

In Anbetracht dieser und vergleichbarer Entwicklungen stand die Deutung jüngster Dynamiken im Disziplinengefüge der Universitäten im Fokus des Workshops, insbesondere jedoch die Frage, ob und ggf. welche Prozesse der Differenzierung und Entdifferenzierung im gegenwärtigen Wissenschaftssystem wirken. Unter Berücksichtigung der These, dass wissenschaftliches Wissen und seine institutionelle Verfasstheit sich gegenseitig be­ein­flussen, wurden anhand von Vorträgen aus dem Bereich der Wissenschaftsforschung sowie Fall­beispielen aus einzelnen Fächern die Frage nach der gegenwärtigen Wissensordnung adressiert und jüngere Prozesse der Differenzierung und Entdifferenzie­rung wissenschaftlicher Disziplinen analysiert. Leitend waren dabei u.a. die Fragen, wie die Entwicklung des Disziplinengefüges der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften in der jüngsten Vergangenheit beschrieben werden kann, welche Ursachen und Bedingungen für die identifizierten Dynamiken von Bedeutung sind und welche Perspektiven sich für die zukünftige Ordnung des deutschen Wissenschafts­systems abzeichnen.

Die Vorträge des ersten Workshop-Tags befassten sich mit Prozessen der Differenzierung wissen­schaftlicher Diszi­plinen, die des zweiten Tags mit Prozessen der Entdifferenzierung. Hierbei zeigte sich jedoch, dass diese Prozesse im Wissenschaftssystem oft parallel auftreten und folglich gleichzeitig zu beobachten sind.

Nach der Einleitung des Workshops durch den Generalsekretär der VolkswagenStiftung, Wilhelm Krull, und die Leiterin der Arbeitsstelle Kleine Fächer, Mechthild Dreyer, nahm die erste Sektion des Workshops Differenzierungsprozesse aus historischer und sozio­logischer Perspektive in den Blick.

Eröffnet wurde die Sektion durch einen universitäts­geschichtlichen Vortrag von SYLVIA PALETSCHEK (Freiburg), der die institutionelle Entwicklung der Geistes- und Sozial­wissenschaften an deutschen Universitäten zwischen 1800 und 1970 über die Einrichtung etatmäßiger Professuren beleuchtete. Paletschek vertrat die These, dass die viel beschworene universitas litterarum als Utopie verstanden werden müsse, da zu keiner Zeit alle Wissenszweige an der Universität vertreten gewesen seien. Zudem stellte Paletschek in ihrem historischen Überblick zur Neugründung geistes- und sozial­wissen­schaftlicher Disziplinen die starken konservativen Beharrungs­kräfte und starren Pfad­abhängigkeiten innerhalb des Universitätssystems heraus, die trotz dreier großer Ausdifferenzierungs­wellen zwischen 1870 und 1990 innovationsverhindernd gewirkt hätten. Die mangelnde Innovations­bereitschaft im 19. Jahrhundert sei insbesondere durch die Angst vor der Vergrößerung der eigenen Fakul­tät, d. h. die Angst vor Machtverlust, motiviert gewesen. Neugründungen von Fächern in Form der Einrichtung etatmäßiger Professuren seien zum einen häufig an Expansionsphasen gebunden gewesen, zum anderen hätten sie in der Regel aber auch parallele (politische) Eingriffe von außen und von innen erfordert. Begünstigend hätten sich zudem der Zeitpunkt des Ausscheidens von Lehrstuhlinhabern, die jeweilige Situation des Landes, aber auch die Durch­setzungskraft ein­flussreicher Professoren vor Ort auf Ausdifferenzierungsprozesse ausgewirkt. Als Argumente habe man insbesondere das Vorhan­den­sein von solchen Disziplinen an anderen Universitäten, die Notwen­digkeit der Binnendifferenzierung angesichts der Kom­plexität des Fachgegenstandes sowie hohe Studierendenzahlen angeführt. Neben der Ab­spal­tung einer Teil­diszi­plin von der Mutter­disziplin hätten sich Differenzierungsprozesse im 19. Jahr­hundert einerseits über die Zusammen­fassung von Lehrgebieten sowie anderer­seits zum Zwecke der Ausbildung für unterschiedliche Berufe vollzogen. Mit Blick auf die jüngere Ent­wicklung formulierte Paletschek die These, dass zum einen Förderprogramme und zum anderen die Einrichtung von Juniorprofessuren zur Vergabe neuer Denomina­tionen und damit zur Institutionali­sierung neuer Teildisziplinen genutzt würden und damit die Differenzierung der Disziplinen weiter voran trieben.

Der Vortrag des Wissenschaftssoziologen RUDOLF STICHWEH (Bonn) widmete sich dem Struktur­wandel des Wissenschaftssystems in den letzten 250 Jahren und der Frage nach der Zukunft der wissen­schaftlichen Disziplin. Den Mittelpunkt von Stichwehs Ausführungen bildete die hohe Relevanz der Disziplin für das Wissenschaftssystems, deren Funktion als Innendifferenzierung des Wissen­schafts­­systems seit 1750 konstant geblieben sei. Als ebenso dauerhaft hätten sich auf der einen Seite die Einteilung von Disziplinen in Subdisziplinen sowie auf der anderen Seite die Zusammen­fassung von Disziplinen in Disziplinenklassen erwiesen. Was die Verwirklichung wissenschaftlicher Disziplinen anbelange, so seien drei Ebenen voneinander zu unterscheiden: (a) die kognitive Ebene als selbst­reproduzierende Population von Begriffen, Theorien und Methoden, (b) die soziale Ebene in Form einer Gemeinschaft von Spezialisten sowie (c) die kommunikative Ebene, die sich ins­besondere in Publikationen niederschlage. Mit dem Mittel der Zitation werde dabei aber nicht nur aufeinander referiert und die bestehende Ordnung fortgeführt, sondern es würden auch laufend die Grenzen der eigenen wissen­schaftlichen Disziplin neu definiert. Disziplinen seien vor diesem Hintergrund, so Stichweh, als hoch dynamische, die Grenzen ständig verschiebende Kommunikationssysteme zu begreifen. Die gesell­schaft­liche Funktion der Disziplin fasste Stichweh zum einen in der Garantie hinreichender Diversität der Wissenschaft im Verhältnis zu ihren Umwelten sowie zum anderen in der Garantie stabiler Adressen für Kommunikations­prozesse im Wissenschaftssystem und externe Nachfragen, die an die Wissenschaft gerichtet würden. Hinsichtlich des Strukturwandels des Wissenschaftssystems seit 1850 ging Stichweh auf acht unterschiedliche Aspekte ein, darunter die zunehmende Bedeutung von Peer Review-Verfahren und die zunehmende Problemorientierung und Projektierung von Wissenschaft. Keine der genannten Aspekte ändere jedoch etwas an der grundlegenden Bedeutung der wissenschaftlichen Disziplin, weshalb Stichweh der wissen­schaftlichen Disziplin auch für die Zukunft eine zentrale Funktion als Basis des Wissenschaftssystems zusprach.

Im Rahmen der zweiten Sektion wurden aktuelle Dynamiken der Differenzierung beleuchtet und vor dem Hintergrund der historisch-systematischen Beiträge der ersten Sektion diskutiert. Den ersten Teil bildeten drei Impulsbeiträge zu einzelnen Beispielen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften, namentlich zur Museumswissenschaft, zu den Area Studies sowie zur Soziologie.

In einem ersten Impulsbeitrag stellte THOMAS THIEMEYER (Tübingen) das innerhalb der deutschen Hochschullandschaft noch relativ junge Fach Museumswissenschaft vor. Er unterschied mit Blick auf die aktuelle Situation der Museumswissenschaft in Deutschland zunächst zwischen eigenen Fach­standorten (bspw. in Würzburg) und einer Verortung des Fachgegenstands innerhalb anderer Fächer mit Museumsbezug. Darüber hinaus sei die Institutionalisierung der Museumswissenschaft in Deutschland über zwei unterschiedliche Stränge verlaufen: Auf der einen Seite stehe die Museumsanalyse mit einer eher historisch-philosophischen Ausrichtung, die in den 1950er und -60er Jahren vor allem in der DDR und anderen osteuropäischen Staaten erstarkt sei. Auf der anderen Seite stünden die Museum Studies, die über eine angelsächsische Tradition verfügten und eine sozialwissenschaftliche, gegenwarts- und anwendungsbezogene Orientierung besäßen. Zugleich zeigte Thie­meyer auch auf, dass die Museumswissenschaft nicht nur als Beispiel für die Ausdifferenzierung einer neuen Disziplin, sondern auch als Beispiel für die Annäherung von Universitäten und Museen und damit für die Entdifferenzierung von Wissenschaft und Kultur verstanden werden könne. Diese Annäherung äußere sich zum Beispiel in einem erweiterten und von beiden Seiten geteilten Forschungsbegriff, gemeinsamen Fragestellungen (bspw. hinsichtlich der Provenienzforschung, musealer und universitärer Wissens­ordnungen), einer Ver­schränkung von Volontariat und Promotions­phase bei der Nachwuchs­ausbildung und dem Streben nach höherer Öffentlichkeitswirksamkeit der universitären Forschung auf der einen und einer stärkeren Drittmittelorientierung der Museen auf der anderen Seite. Für die Etablierung der Museums­wissenschaft an der Universität Tübingen – so Thiemeyer – sei u.a. die hohe Ausbildungsrelevanz ausschlaggebend gewesen.

Der zweite Impulsvortrag von VINCENT HOUBEN (HU Berlin) widmete sich den Area Studies. Houben bezeichnete diese als Quasi-Disziplin, da in der scientific community Uneinigkeit über die Frage bestehe, ob es sich um eine Disziplin oder viele Disziplinen mit einer gemeinsamen Programmatik handle. Zudem sei die Abgrenzung der rund 30 Jahre alten Area Studies zu den Nationalphilologien je nach Bereich unterschiedlich stark vollzogen. Die Eigenständigkeit der Area Studies sei vor allem über den ge­meinsamen erklärenden Ansatz zu begründen, Forschungsfragen im Ausgang von der Region zu adressieren und den Blick von innen heraus zu entwickeln ­– dies alles mit dem Ziel eine vergleichende Perspektive zu gewinnen. Trotz der dreißigjährigen Tradition stünden die Area Studies, so Houben, aber unter ständigem Druck. Dieser äußere sich innerhalb der Area Studies im Ringen um eine tiefergreifende theoretische Fundierung und an einzelnen Universitäten über teilweise zu geringe Studierendenzahlen, welche die Aufrechterhaltung eigener Studiengänge gefährdeten. Höchst divers seien in Deutschland zudem die Organisationsformate der Area Studies. Perspektivisch bewegten sich die Area Studies auf eine Umkehrung der disziplinären Differen­zierung und damit Entdifferenzierung zu. Als Reaktion auf die Schrumpfung – bspw. von Studierenden­zahlen und Studiengängen ­– seien neue Formate zu entwickeln, wobei die Herausforderung darin be­stehe, die grundlegenden Parameter der Area Studies beizubehalten. Global betrachtet bedürfe es einer alternativen Organisation der Area Studies in Form einer gezielten Koordination zwischen Ländern zu inhaltlichen Schwerpunkten und Bereichen.

Der dritte Impulsbeitrag von PAULA-IRENE VILLA BRASLAVSKY (München) beleuchtete die Gründung und Programmatik der Akademie für Soziologie vor dem Hintergrund der Frage nach einer fortschreitenden Binnendifferenzierung der Soziologie.<note>Vgl. zur Akademie für Soziologie die Selbstdarstellung auf der zugehörigen Website (zuletzt aufgerufen am 7. August 2019).</note> Villa Braslavsky betonte, dass sie ihre Überlegungen aus der Per­spek­tive des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) formuliere, welchem sie angehöre. Sie verstehe die aktuellen Dynamiken als Differenzierung durch Entdif­feren­zierung. Denn während die bisherige Soziologie auf die Pluralität der sozialen Welt mit einer starken Binnendifferenzierung in Form unterschiedlicher Soziologien geantwortet habe, die sich auch in den 35 Sektionen der DGS spiegle, sei die Akademie für Soziologie im Herbst 2017 mit dem Anspruch angetreten, das ganze Fach zu beheimaten. Dabei werde die fortschreitende Binnen­differen­zierung der Soziologie von der Akademie für Soziologie kritisch betrachtet und mit Entprofes­sionalisie­rung (Beliebigkeit), Realitätsverlust (Beschäftigung des Fachs mit sich selbst) sowie Legitimations- und Bedeutungsverlust gleichgesetzt. Die Entdifferenzierung hin zu einer neuen Einheits­soziologie werde dabei als Lösungsweg im Sinne der Befreiung von einer „schlechten Pluralität“ pro­pagiert. Die DGS könne auf diese Entwicklung antworten, indem sie sich u.a. einer ausführ­lichen Debatte über das Gelingen von Pluralismus und Binnendifferenzierung im Fach widme.

Im Rahmen des zweiten Teils der zweiten Sektion wurde die Organisation von Differenzierungs- und Entdifferenzierungsprozessen in den Vordergrund gerückt.

PETER FUNKE (Münster), der von 2010 bis 2016 Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) war, befasste sich mit dem Umgang der deutschen Forschungsförderung mit Differen­zierungs- und Entdifferenzierungs­prozessen wissenschaftlicher Disziplinen. Mit Bezug auf die Studie „Forschungsförderung in Deutschland“ (1999) nannte er als zentrale Herausforderungen für die Forschungsförderung u.a. die Beschleunigung der Wissensproduktion, Inter­disziplinarität und außer­wissenschaftliche Verwendungszusammenhänge.<note>Internationale Kommission 1999: Forschungsförderung in Deutschland. Bericht der internationalen Kommission zur Systemevaluation der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft. Hannover.</note> Zugleich seien wichtige Vor­aus­setzungen für wissen­schaftliche Innovation aber gerade die Öffnung für neue Anforderungen, die Erschließung zukunfts­trächtiger Wissensgebiete sowie das Aufbrechen starrer Strukturen in Form von inter­disziplinärer und einrichtungsübergreifender Zusammenarbeit. Die Forschungsförderung habe daher mit der Tatsache umzugehen, dass sich Fortschritte innerhalb der Wissenschaft vor allem an den Rändern der Disziplinen ereigneten. Die DFG reagiere auf diesen Sachverhalt zum einen, indem sie eine themen­offene Förderung nach wissenschaftlichen Qualitätsmaßstäben  verfolge. Zum anderen habe sie sich mit der Frage einer angemessenen Begutachtung von Forschungsanträgen auseinandergesetzt und 2013 einen Bericht zum Fördererfolg von fachüber­greifender Begutachtung vorgelegt, der das Thema der Interdisziplinarität im Rahmen ihrer Antrags­entscheidungen untersuche.<note>Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 2013: Fachübergreifende Begutachtung: Strukturwirkung und Fördererfolg. Eine Exploration auf Basis von Neuanträgen in der DFG-Einzelförderung (2005 bis 2010)</note>  Ausgehend von der Frage, ob interdisziplinäre Anträge erfolg­reicher seien als monodisziplinäre, zeige der Bericht zum einen auf, dass es keinen stabilen Zusammen­hang zwischen fachübergreifender Begutachtung und Fördererfolg gebe. Zum anderen enthalte der Bericht – ausgehend von den 48 Gutachterfächern der DFG – Abbildungen zu Fächer­netzwerken, die aus fachübergreifenden Begut­achtungen resultierten und ein detailliertes Bild der Zusammen­arbeit zwischen den einzelnen Fächern böten. Diese machten deutlich, dass die Begut­achtung von DFG-Forschungsanträgen nicht in fachlich separierten Welten erfolge, auch wenn festzu­halten sei, dass fachübergreifende Begut­ach­tungen in den Geisteswissenschaften eine etwas geringere Rolle spielten als in anderen Fach­kulturen.

KATHARINA BAHLMANN (Arbeitsstelle Kleine Fächer Mainz) befasste sich in ihrem Vortrag zur Situation der sogenannten kleinen Fächer an deutschen Universitäten mit der Frage, welche Differenzierungs- und Entdifferen­zierungs­prozesse ausgehend von der Untersuchung kleiner Fächer in den Blick gerieten. In Anschluss an einführende Bemerkungen zur Relevanz der Kartierung kleiner Fächer sowie zur Definition des Begriffs „kleines Fach“ ging Bahlmann zunächst auf zentrale Ergebnisse zur Entwicklung der aktuell erfassten 153 kleinen Fächer zwischen 2007 und 2019 im deutschen Hochschul­system ein. Hinsichtlich der Frage nach der Beobachtbarkeit von Differenzierungs­prozessen über die Kartierung kleiner Fächer verwies Bahlmann zunächst auf den deutlichen Anstieg der kartierten kleinen Fächer zwischen 1974 und heute. Bemerkenswert sei die relativ hohe Konstanz mit Blick auf die kartierten Fächer, insofern die meisten kleinen Fächer, die Mitte der 1970er Jahre erfasst worden seien, auch heute noch kartiert würden. Näher ging Bahlmann auf die 13 kleinen Fächer ein, die im Untersuchungszeitraum der Kartierung, d. h. zwischen 1997 und 2019 neu an den staatlichen Uni­versi­täten in Deutschland ein­gerichtet wurden. Charakte­risieren ließen sich diese Fächer zum Teil über einen hohen Anwendungs­bezug sowie interdisziplinäre Themenstellungen. Hinweise auf Ent­differen­zierungs­prozesse liefere die Untersuchung der kleinen Fächer demgegenüber sowohl mit Blick auf die universi­tären Organisations­strukturen, als auch hinsichtlich der Studiengänge kleiner Fächer. So hätten in den letzten Jahren zahlreiche kleine Fächer eigene Institute an ihren Universitätsstandorten aufgeben müssen, um mit anderen kleinen oder großen Fächern gemeinsame Institute oder Arbeits­bereiche zu bilden. Ebenso könnten viele kleine Fächer mit der Einführung der Bachelor- und Master­studiengänge keine oder nur deutlich weniger Fach­studien­gänge anbieten. Neben Kleinstfächer wie Albanologie oder Vietnamistik beträfe dies vor allem geschichts-, regional- und geo­wissen­schaftliche kleine Fächer. Wie eine 2017/18 durchgeführte Befragung zur fachlichen Eigen­ständigkeit ergeben habe, seien es gerade die Vertreterinnen und Vertreter dieser Fächergruppen, die eine große Uneinigkeit bezüglich der Eigen­ständigkeit ihres Faches gezeigt hätten, so dass gerade hier die Entwicklung der nächsten Jahre aufmerksam zu beobachten sei.

Der Abendvortrag von PETER SCHRIJVER (Utrecht) griff das Workshop-Thema am Beispiel der Keltologie und ihrer Situation im niederländischen Hochschulsystem auf. Schrijver machte deutlich, dass es in den vergangenen Jahren in den Niederlanden zu einem „Kahlschlag“ bei den kleinen Fächer gekommen sei. So hätten zahlreiche Streichungen und Zusammenlegungen stattgefunden, die insbesondere darauf zurückzuführen seien, dass die Mittelverteilung an den Hochschulen allein über Studierenden­zahlen erfolge. Hiermit habe auch die Keltologie zu kämpfen, die weltweit ein kleines Fach sei. So sei er in den Niederlanden der einzige, der eine solche Professur habe, und auch in Deutschland gebe es nur eine Professur, nämlich an der Universität Marburg. Trotz der geringen strukturellen Größe der Keltologie sei die Frage, womit sich die einzelnen Standorte beschäftigen, nicht einfach zu beantworten. Während eine archäologische Keltologie sich beispielsweise mit Münzfunden beschäf­tige, widme sich eine sozio­logische Keltologie u.a. der Sprachkultur und dem Spracherhalt. Eine stärker kultur- und literatur­wissen­schaftlich orientierte Keltologie könne sich mit der Handschriftenkunde und philo­logischen Frage­stellungen auseinandersetzen. Ebenso gut könne keltologische Forschung aber auch mit einer Schwer­punktsetzung innerhalb der historischen Sprachwissenschaft erfolgen. Insofern seien – je nach Zugang – mehrere Keltologien voneinander zu unterscheiden, die in unterschiedlichen inter- und multi­diszi­plinären Kontexten agierten. Ferner sprach sich Schrijver dafür aus, die Geistes­wissen­schaften als Grund und Sinn ihrer selbst zu begreifen, womit er sich von der ein­gangs angesprochenen Praxis der Hochschulfinanzierung distanzierte, Ressourcen in Orientierung an Studierenden­zahlen zu verteilen.

Den Beginn des zweiten Workshop-Tages bildete die dritte Sektion, in deren Rahmen Entdif­fe­ren­zierungs­prozesse aus soziologischer Perspektive in den Blick genommen wurden.

Eröffnet wurde die Sektion durch einen Vortrag von PETER WEINGART (Bielefeld) mit dem Titel „Ent­dif­feren­zierungsdynamiken im Wissenschaftssystem als Reaktion gesellschaftlicher Erwar­tun­gen?“. Grundlage seiner Überlegungen bildete eine Untersuchung, die er im Vorfeld des Vortrags gemeinsam mit Niels Taubert durchgeführt hatte. Mit Blick auf die Einführung des New Public Managements an deutschen Hochschulen in den 1990er Jahren sprach Weingart von einem Paradigmen­wechsel der Wissenschaftspolitik, in dessen Folge die allgemeine Öffentlichkeit zur entscheidenden Referenz der Universität geworden sei. Damit seien an die Stelle des konstitutiven Vertrauens in die Wissenschaft auf den gesellschaftlichen Nutzen ausgerichtete Legitimierungsstrategien getreten. Weingarts Ausführungen setzten bei der These an, dass gesell­schaftliche Erwar­­tungen als große Themen in der Gesellschaft formuliert würden und in Form von „großen Pro­grammen“ (UN Sustainable Development Goals, Horizon 2020 u.a.) an die Wissenschaft herangetragen würden. Dieser These zufolge müsse Wissenschaft mit Blick auf eine adäquate Problembearbeitung ihre Arbeitsteilung überwinden und interdisziplinär agieren. Hieraus ergebe sich die Annahme, dass die Entwicklung von Disziplinen maßgeblich durch deren Anwendungs­kontexte bestimmt werde. Zur Überprüfung dieser Annahme nahm Weingart u.a. die Entwicklung von Denominationen am Beispiel der Geschichts­wissenschaft, Philosophie und Sprachwissenschaft in den Blick. Als weitere Indikatoren zog er Stellenausschreibungen für den Zeit­raum von 2015 bis 2019 sowie die Themenstellungen von Sonderforschungsbereichen heran. Zentrales Ergebnis sei, dass anhand der Denominationen keine Entwicklung hin zu einer Entdiffe­renzierung zu beobachten sei. Ansatzweise könne eher von einer weiteren Differenzierung gesprochen werden. Zudem seien inter­disziplinär orientierte Ausschreibungen recht selten. Wenn sie aufträten, dann ginge es in der Regel um die Zusammenarbeit mit Nachbarfächern, wohingegen fachkulturübergreifende Zusammenarbeit in den Ausschreibungen kaum zu finden sei. Blicke man demgegenüber auf die Titel von geistes­wissen­schaftlichen Sonderforschungsbereichen und Exzellenzclustern, so werde zwar eine stärkere Problem­orientierung sichtbar, die gegebenenfalls aber auch nur rhetorischer Natur sein könne. Als Fazit hielt Weingart fest, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften zwar auf die großen gesell­schaftlichen Themen reagierten, dass dies aber noch in begrenztem Umfang und unter spezifischen Blickwinkeln geschehe. Dabei stehe der Differenzierungsprozess wissen­schaftlicher Disziplinen nur scheinbar einer Entdifferenzierung von Wissenschaft und Gesellschaft entgegen – tatsächlich setze er sich ununter­brochen fort.

In seinem Vortrag „Entdifferenzierung durch Leistungsmessung? Der Fall Geschichtswissenschaft in Großbritannien“ ging JULIAN HAMANN (Hannover) von der von Espeland und Sauder (2007) formu­lierten Annahme aus, dass Forschung sich strategisch an Leistungsmessung anpasse.<note>Espeland, Wendy N.; Sauder, Michael 2007: Rankings and reactivity. How public measures recreate social worlds. In: American Journal of Sociology 113 (1), S. 1-40.</note>  Darüber hinaus formulierte Hamann zum einen die These, dass die Wahrscheinlichkeit der Reaktivität – d. h. der Anpassung der Forschung an die Leistungsmessung – mit der Wirkmächtigkeit der Leistungsmessung steige. Zum anderen ging er davon aus, dass Leistungsmessung Entdifferenzierung begünstige, wenn sie über alle Fächer hinweg gleichermaßen angewendet würde. Zur Überprüfung dieser Hypo­thesen nahm Hamann das britische Research Excellence Framework (REF) in den Blick und fragte am Beispiel der Geschichtswissenschaft, welche Auswirkungen das REF auf die Publikationskultur eines geistes­wissenschaftlichen Faches habe. Dabei kam Hamann zu dem Ergebnis, dass eine Korrelation zwischen dem REF-Erfolg und spezifischen Publika­tionsformen bestehe. So würden die hohen Rangplätze von geschichtswissenschaftlichen Departments besetzt, von denen insbesondere Journal-Artikel und wenig Sammelbandbeiträge eingereicht worden seien. Umgekehrt seien auf den niedrigen Rangplätzen Departments mit einem starken Fokus auf Sammelbandbeiträgen und schwachem Fokus auf Journal-Artikeln zu finden. Hamann wertete diesen Sachverhalt als Übernahme einer naturwissenschaftlichen Publikationskultur. Insofern ebne die gene­rische Leistungs­messung fachspezifische Charakteristika ein. Dennoch, so Hamann, vollziehe sich der geschilderte Prozess der Entdifferenzierung nicht unter den Vorzeichen fachlicher Indifferenz, sondern unterliege der Dominanz spezifischer Fachkulturen. Zudem wies er darauf hin, dass mit der Entdifferen­zierung auch eine zunehmende stratifikatorische Differenzierung einhergehe, d. h. jene nach Exzellenz. Unbeant­wortet bleibe jedoch, was die aufgezeigten Ergebnisse konkret für die Wissensproduktion in der Geschichts­­wissen­schaft bedeuteten.

Wie bereits am Vortag schlossen sich an die beiden Vorträge aus dem Bereich der Wissenschafts­forschung in der darauf folgenden vierten Sektion Impulsbeiträge zu Fallbeispielen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften an, die nun primär Prozesse der Entdifferenzierung fokussierten.

Eröffnet wurde die Sektion von MICHAEL MEYER (FU Berlin) und GERD GRASSHOFF (HU Berlin), die sich als Leiter des Exzellenzclusters TOPOI (The Formation and Transformation of Space and Knowledge in Ancient Civilizations) zu Entdifferenzierungsprozessen im Rahmen kollektiver Großformen inter­disziplinärer Forschung äußerten. Meyer hielt zu Beginn fest, dass die Zusam­menarbeit im Falle von TOPOI, an dem ca. 33 geistes-, natur- und sozial­wissen­schaftlichen Disziplinen, sechs Partner­institutionen sowie weiteren Partnern beteiligt seien, insofern einen Prozess der Entdifferenzierung in Gang gesetzt habe, als die beteiligten Disziplinen aus ihrer Abschottung gelöst worden seien. Damit sei jedoch keine Infragestellung der selbständigen Existenz der einzelnen Fächer einhergegangen. Ihren Niederschlag habe die Zusammenarbeit u.a. in der Neueinrichtung von Querschnitts­professuren (bspw. für Archäo­informatik) oder dem Aufbau einer eigenen open access Plattform gefunden. Hinsichtlich der Rückwirkung auf die beteiligten Diszi­plinen hielten Meyer und Graßhoff eine Stärkung des disziplinären Kerns, die Erweiterung des For­schungs­horizonts, die Erhöhung der Anschlussfähigkeit hin zu „großen Fragen“ sowie auf struktureller Ebene die Existenz­sicherung der Disziplin durch die Integration in den Verbund fest. Von Entdifferen­zierung im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Kollaborationen könne insofern gespro­chen werden, als der Aspekt der Überschreitung der eigenen disziplinären Grenzen von Anfang an im Fokus gestanden und sich die Bedeutung der disziplinären Zuordnung zunehmend verringert habe – bis zu dem Punkt, das die Kategorisierung des Wissens nach Fächern in der Zusammenarbeit verschwunden sei.

Universitätspräsidentin KATHARINA KRAUSE (Marburg) adressierte mit ihrem Impulsbeitrag zur Kon­zen­tration von (kleinen) Fächern in Zentren zunächst die Frage, wozu es einer Unterscheidung von Fächern und Teildisziplinen im Kontext von Hochschul- und Wissenschaftspolitik bedürfe. Sie argu­mentierte, dass sich die Notwendigkeit der Unterscheidung mit Blick auf – sowohl hochschulinterne als auch hochschulübergreifende – Steuerungsprozesse ergebe. Problematisch sei jedoch, dass es dies­bezüglich an einer die Bundesländer übergreifenden Koordination fehle. Auch erhalte ins­besondere der Schwund an Teildisziplinen (bspw. Ostkirchenkunde, Kern- und Radiochemie) wenig Aufmerksamkeit. Eine landes­interne strategische Bündelung von kleinen Fächern und Teildisziplinen habe in Hessen in Form der Bildung interdisziplinärer Zentren stattgefunden. Dabei handele es sich um top-down Initiativen von Seiten des Landes, die durch die Hochschulleitung und den Senat an den einzelnen Universitäten Unterstützung erfahren hätten. Ziele der Zentrenbildung seien die Schaffung von Synergien, die Stärkung interdisziplinärer Zusammenarbeit und Einrichtung inter­diszi­plinärer Studiengänge, die Verbesserung der Chancen bei der Einwerbung von Drittmitteln, die Beratung von Politik und Wirtschaft sowie die Verbindung einer philologischen mit einer gesellschaftlich-gegen­warts­bezogenen Perspektive gewesen.

Im dritten Impulsvortrag warf ANNE KWASCHIK (Konstanz) einen wissenschaftshistorischen Blick auf die Entwicklung der Area Studies in den USA, Frankreich und Großbritannien. Als Ergebnis eines inter­nationalen Vergleichs charakterisierte Kwaschik die Area Studies als Wissenschafts­trend nach 1945, der das Ergebnis von gezielten Fördermaßnahmen zur Einspeisung regionalwissenschaftlicher Kompetenzen in die Disziplinen gewesen sei. Area Studies stellten eine neue institutionelle Kategorie intellektueller und interdisziplinärer Gruppenarbeit dar, die auf eine bewusste Aufweichung der bisherigen Wissenschaftstradition in Disziplinen als sozio-kognitive Strukturen abzielte. In den USA nahm das Konzept im Anschluss an eine geisteswissenschaftliche Mobilisierung durch den American Council of Learned Societies (ACLS) in der Arbeit der philanthropischen Stiftungen Ende der 1940er Jahre sozialwissenschaftliche Konturen an. Es wurde als wissenschaftspolitischer Trend und als Teil internationaler Sicherheits- und Verteidigungspolitik institutionalisiert. In Großbritannien wurden die „regional studies“ im Kontext des entwicklungspolitischen Konsenses Ende der 1940er Jahre zu einer nationalen Aufgabe definiert, aber auch hier ist in Folge des Hayter Reports in den 1960er Jahren eine Welle von Zentrumsgründungen zu beobachten. Für Frankreich wurden die Programme an der Sechsten Sektion der École pratique des hautes études in Paris (ab 1954) unter Leitung von Fernand Braudel und Clemens Heller und die hier diskutierten Vorstellungen von Interdisziplinarität vorgestellt. Nachdem im Jahr 1996 die Area-Committee im US-amerikanischen Social Science Research Council (SSRC) aufgelöst wurden, fanden diese Entwicklungen ein vorläufiges Ende. Seit der Jahrtausendwende sei allerdings ein Revival zu verzeichnen: In der Bundesrepublik sind die Area Studies mit den Empfehlungen des deutschen Wissenschaftsrats 2006 Teil eines öffentlichen und wissenschaftspolitischen Diskurses geworden. Zentral für diese Entwicklung, so Kwaschiks Resümee, sei der Strukturwandel der Wissenschaft und die zunehmende Bedeutung ihrer Steuerung durch Projektförderung. Entdifferenzierungsprozesse sind mit den Area Studies in doppelter Hinsicht verbunden, zum einen durch die mit dem Interdisziplinaritäts-Paradigma verbundenen Effekte auf die Binnendifferenzierung der Sozialwissenschaften, zum anderen zeichnet sich durch die Orientierung an Förder- und Projektlogiken die Entdifferenzierung von Wissenschaft als Teilsystem der Gesellschaft ab.

JÜRGEN OSTERHAMMEL (Freiburg) formulierte in seinem Impulsbeitrag am Fallbeispiel der Geschichtswissenschaft Thesen zu den Dynamiken in einem ‚großen Fach‘, wobei er zugleich einräumte, dass diese nicht paradigmatisch für andere große geisteswissenschaftliche Fächer seien, da diese allesamt eine individuelle Strukturierung aufwiesen. Er ging von der Beobachtung aus, dass es in der Geschichtswissenschaft seit dem Historikerstreit keine Divergenzen mehr mit Blick auf das Richtungsverständnis gebe und eine Verständigung zwi­schen allen Teilbereichen infolgedessen möglich sei. Auch stelle die Methodensicherheit vor dem Objekt eine über­greifende Grundbedingung historischen Arbeitens dar. Daran anschließend befasste sich Oster­hammel mit der Frage, wie es in einem solchen Kompositfach wie der Geschichtswissenschaft zur Differen­zierung komme und wie diese aussähe. Er führte aus, dass das Fach bis heute an einer Ein­teilung in Epochen festhalte. Dies sei insofern bemerkenswert, als die Fach­vertreterinnen und Fach­vertreter flexible Epochengrenzen prin­zi­piell befürworteten, es realiter aber kaum Bemühungen gebe, die Struk­turierung des Faches anzupassen. So sei eine hohe Stabilität im Kernbereich des Faches fest­zustellen, während gleichzeitig nur geringe Möglichkeiten für Querschnitts­professuren existierten. Hinsichtlich der histori­schen Entwick­lung des Faches merkte Osterhammel an, dass im Laufe des 20. Jahrhunderts einige Fachgegenstände aus der Geschichtswissenschaft herausgelöst worden seien, so beispiels­weise Kunst, Literatur und Musik. Außerdem hätten sich eine eigenständige Medizin-, Rechts- sowie die Wirtschafts- und Sozial­geschichte entwickelt. Zudem sei mit Blick auf einzelne Bereiche ein „Rückmarsch in Zentren“ zu beobach­ten. So sei die Wissen­schafts­geschichte an den Universitäten zwar noch relativ präsent, werde aber mehr und mehr an außer­universitäre Einrichtungen verlagert. Auch mit Blick auf die Geschichts­wissenschaft als solche könne eine hohe Dichte an außeruniversitären Institutionen mit ge­schichts­­wissen­schaftlichen Schwer­punkten fest­gestellt werden. Darüber hinaus verwies Osterhammel auf die Wissens­geschichte als „Gewin­nerin“ der Entwicklungen der letzten Jahre, wohingegen andere Bereiche wie die Umweltgeschichte aus unerfind­lichen Gründen nicht reüssierten. Was Osterhammels eigenen Schwer­punkt, die Global­geschichte, anbe­lange, so befinde sich diese in einem Nischendilemma. Er beschrieb die Global­geschichte als einen „Club auf der Suche nach Fachlichkeit“, in dem die Frage, ob der Bereich zu einem eigenen ordentlichen Fach werden oder bewusst darauf verzichten solle, noch nicht ent­schieden sei. Gefürchtet werde dabei u.a., dass eine Aus­differenzierung der Globalgeschichte nur zur institutionalisierten Irrelevanz führe, da sich die in der Mutterdisziplin verbleibenden Historikerinnen und Historiker global­geschicht­licher Themen einfach entledigen könnten. Darüber hinaus verwies Osterhammel auch auf die Bedeutung globaler Themen innerhalb der einzelnen historischen Teildisziplinen.

Unter dem Titel „Wie lässt sich die aktuelle Strukturierung wissenschaftlichen Wissens be­schrei­ben? - Zum praktischen Umgang mit Differenzierungs- und Entdifferenzierungsdynamiken im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem“ wurden die Ergebnisse des Workshops ab­schlie­ßend auf einem Podium und im Plenum diskutiert. Neben dem Generalsekretär der Volkswagen­Stiftung, WILHELM KRULL, der für die Moderation verantwortlich zeichnete, waren auf dem Podium der Präsi­dent der Hochschulrektorenkonferenz, PETER-ANDRÉ ALT (Berlin), die Vorsitzende des Verbands der Histori­ker und Historikerinnen Deutschlands, EVA SCHLOTHEUBER (Düsseldorf) sowie der Leiter der Arbeitsstelle Kleine Fächer, UWE SCHMIDT (Mainz) vertreten.

Mit Blick auf die jüngsten Dynamiken der Differenzierung und Entdifferenzierung innerhalb des Disziplinengefüges hielt Schlotheuber zunächst fest, dass die Frage der Differenzierung und Entdifferenzierung eine zentrale Frage für einen Fachverband darstelle, insofern seine Mitglieder ebenso Methoden- und Theorienstandards klären wie die Frage beantworten müssten, was innerhalb des Fachs als innovativ und exzellent zu gelten habe. Zudem gehöre es zu den Aufgaben einer Fach­gesellschaft allzu starke Ausdifferenzierungstendenzen wieder einzufangen. Aus Perspektive der Hoch­schul­forschung beschrieb Schmidt Prozesse der disziplinären Differenzierung demgegenüber als Prozesse der Auslagerung von Gegenständen oder Methoden, die innerhalb der bestehenden Fach­grenzen nicht mehr behandelt werden könnten. Darüber hinaus wies er darauf hin, dass inter­diszi­plinäres Arbeiten mit Blick auf das Disziplinengefüge letztlich eher zur Differenzierung als zur Ent­dif­ferenzierung beitrage, da sich an interdisziplinären Schnittstellen neue Disziplinen etablieren könnten. Auch halte Inter­disziplinarität in der Regel die bestehende Differenzierung – d. h. die the­matische, methodische und theoreti­sche Exklusivität – der beteiligten Disziplinen weiter aufrecht. Des Weiteren resümierte Schmidt als ein Ergebnis des Workshops, dass sich Entdifferenzierung innerhalb des aktuellen deutschen Wissen­schafts- und Hochschulsystems weniger als Zustand (– bspw. im Sinne einer vollzogenen Auf­he­bung von Disziplinengrenzen –) zeige, sondern in der jüngsten Vergangenheit vielmehr unterschiedliche Prozesse der Entdifferen­zie­rung sichtbar würden. Zudem stellte er die These auf, dass Differenzierungs- und Entdifferenzierungsprozesse nicht getrennt voneinander zu betrachten seien, da sie in der Regel zeitlich parallel aufträten. Alt führte die Überlegungen zur Entdifferenzierung fort und bezog sich dabei u.a. auf die seit der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen zunehmende Tendenz, dass sich Studiengänge nicht mehr an Fächergrenzen orientierten, sondern die Vermittlung spezifischer ­– nicht zwangs­läufig fachlicher – Kom­petenzen in den Vordergrund rückten. Die nachlassende Bedeutung von Fä­chern und Fachgrenzen wer­de auch auf der Ebene der Infrastrukturprozesse oder bei der Ausrichtung von (Verbund-)Forschungs­projekten im deutschen Hochschul- und Wissenschaftssystem sichtbar. All die­se Beispiele gingen insofern in eine ähnliche Richtung, als man sich von alten Fachkulturen und -struk­turen löse. Gegen­läufig dazu agierten Hochschulen über ihre Fachbereiche, die die Fachlichkeit sicherten.

Als Herausforderung innerhalb des gegenwärtigen Hochschulsystems sprach Krull vor diesem Hinter­grund das Finden der richtigen Balance zwischen Spezialisierung und generellen Kompetenzen bzw. Über­blickswissen an. Als weitere Herausforderungen, denen sich die Fächer und Fachverbände gegenwärtig und in Zukunft stellen müssten, adressierte Schlotheuber die Auflösung der klassischen Berufs­bilder sowie den digitalen Wandel.

Krulls Frage, welche Veränderungen auf institutioneller Ebene möglich seien, führte die Diskussion auf der einen Seite zu der Frage geeigneter Förderformate. Schmidt sprach in diesem Zusammenhang an, dass es wenig Evidenzen dazu gebe, dass Cluster relativ gesehen auch zu einem höheren Forschungsoutput und damit tatsächlichen Mehrwert für das Wissenschaftssystem führten. Aus dem Plenum wurde ergänzt, dass gerade für die kleinen Fächer, die in Clustern und Sonderforschungsbereichen in der Regel gut vertreten seien, Lösungen jenseits projektförmiger Förderungen und damit konstante Bedingungen innerhalb des Hochschul­systems gefunden werden müssten. Zudem wurde ein unterkomplexer Umgang mit Größe angemahnt und betont, dass insbesondere kleine wendige und gut vernetzte Einheiten Durchbrüche in der Wissenschaft erzielten, die gegenwärtigen Förderformate jedoch kaum darauf reagierten. In eine ähnliche Richtung äußerte sich auch Schlot­heuber, insofern sie die der Kennzahlenorientierung zugrunde liegende Logik des „je mehr, deso besser“ mit Blick auf die Produktivität hinterfragte. Zudem sprach sie sich für eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Universitäten, Akademien und außeruniversitären Forschungseinrichtungen hinsichtlich der Nachwuchsausbildung aus.

Zudem konzentrierte sich die Diskussion auf die Entwicklungsdynamiken von Fächern. Kontrovers diskutiert wurde hierbei die Frage, inwieweit eine koordinierte Steuerung der Fächer- und Forschungslandschaft in Zusammenarbeit von Hochschulen und Ländern erforderlich seii. Während sich einzelne Teilnehmende für eine stärkere Steuerung aussprachen, vertrat Alt die These, dass fachliche Dynamiken aufgrund des komplexen Zusammen­spiels zahlreicher Faktoren alles in allem keine steuerbaren Prozesse seien, dass aber dennoch kein Wildwuchs herrsche. Zudem führte er an, dass die Frage nach der Veränderbarkeit letztendlich mit der Frage gleichzusetzen sei, ob die Bereitschaft bestehe, für etwas Neues etwas Altes aufzugeben. Diese Frage werde oft zu Lasten der kleinen Fächer beantwortet, was insofern gefährlich sei, als das jeweilige kleine Fach gegebenenfalls die Probleme von morgen löse. Vor diesem Hintergrund sprach sich Schmidt dafür aus, für kleine Fächer Sondertatbestände zu schaffen und sie aus der normalen indikatoren­gestützten Verteilung herauszunehmen. Alt schloss die Diskussion mit der These, dass „Diversität“ innerhalb des Hochschulsystems als verdächtiger Begriff gelte, insofern sowohl Fächer als auch Hochschulen gerne für sich beanspruchten, alles machen zu können. Die funktionale Differenzierung sei hier jedoch ganz entscheidend. So sollten Fächer ein Selbstbewusstsein im Hegelschen Sinne besitzen und gleichermaßen ihre Herkunft und ihre Methode(n) kennen. Denn dies bilde die Voraussetzung dafür, dass das Wissenschaftssystem seine Eigendynamik behalte und gleichzeitig die Identität der Fächer nicht preisgegeben werde.  

Die Arbeitsstelle Kleine Fächer und die VolkswagenStiftung Hannover danken allen Rednerinnen, Rednern und Teilnehmenden des Workshops für ihre Beiträge und den ertragreichen Austausch. 

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Programm

Montag, 20. Mai 2019

Begrüßung und Eröffnung des Workshops

Dr. Wilhelm Krull, Generalsekretär der VolkswagenStiftung, Hannover
Prof. Dr. Mechthild Dreyer, Leiterin der Arbeitsstelle Kleine Fächer, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Sektion 1: Differenzierung – Geschichte und Theorie

Moderation: Prof. Dr. Uwe Schmidt, Leiter der Arbeitsstelle Kleine Fächer, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

„Entwicklung von wissenschaftlichen Disziplinen in den Geistes- und Sozial­wissenschaften aus Perspektive der Universitäts- und Wissenschafts­geschichte“
Prof. Dr. Sylvia Paletschek, Neuere und Neueste Geschichte, Albert Ludwigs-Universität Freiburg

„Strukturwandel des Wissenschaftssystems und die Zukunft der wissenschaftlichen Disziplin“
Prof. Dr. Rudolf Stichweh, Dahrendorf Professur „Theorie der modernen Gesellschaft“, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Sektion 2: Aktuelle Dynamiken der Differenzierung

Moderation: Prof. Dr. Mechthild Dreyer, Leiterin der Arbeitsstelle Kleine Fächer, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Fallbeispiele zur Diskussion aktueller Dynamiken der Differenzierung

„Neue (inter)disziplinäre Felder im Dialog mit außeruniversitären Akteuren: Museumsforschung und Museologie“
Prof. Dr. Thomas Thiemeyer, Empirische Kulturwissenschaft, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

„Grenzfälle zwischen eigenständiger Disziplin und Teildisziplin: Area Studies“
Prof. Dr. Vincent Houben, Geschichte und Gesellschaft Südostasiens, Humboldt-Universität zu Berlin

„Innerdisziplinäre Differenzierungstendenzen: Soziologie“
Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky, Soziologie / Gender-Studies, Ludwig-Maximilians-Universität München

Organisation von Differenzierungs- und Entdifferenzierungsdynamiken im System der Wissenschaft

„Differenzierungs- und Entdifferenzierungsdynamiken wissenschaftlicher Disziplinen und der Umgang damit innerhalb der deutschen Forschungsförderung“
Prof. Dr. Peter Funke, ehemaliger Vizepräsident der Deutschen Forschungs­gemeinschaft, Westfälische Wilhelms-Universität Münster 

„Die Kartierung der sog. kleinen Fächer an deutschen Universitäten“
Dr. Katharina Bahlmann, Arbeitsstelle Kleine Fächer, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Abendvortrag

Einführende Worte: Dr. Wilhelm Krull, Generalsekretär der VolkswagenStiftung, Hannover

„Über verschwindende Fächer und verschwindende Grenzen zwischen den Fächern: die kleine Keltologie und die großen Fragen der Wissenschaft“
Prof. Dr. Peter Schrijver, Linguistik / Keltologie, Universiteit Utrecht


Dienstag, 21. Mai 2019

Sektion 3: Entdifferenzierung – Geschichte und Theorie

Moderation: Dr. Antje Tepperwien, VolkswagenStiftung, Hannover

„Entdifferenzierungsdynamiken im Wissenschaftssystem als Reaktion gesellschaftlicher Erwartungen“
Prof. Dr. Peter Weingart, Wissenschaftssoziologie, Universität Bielefeld

„Entdifferenzierung durch Leistungsmessung? Der Fall Geschichtswissenschaft in Großbritannien“
Dr. Julian Hamann, Wissenschaftssoziologie, Leibniz-Universität Hannover  

Sektion 4: Aktuelle Dynamiken der Entdifferenzierung

Moderation: Dr. Vera Szöllösi-Brenig, VolkswagenStiftung, Hannover

Fallbeispiele zur Diskussion aktueller Dynamiken der Entdifferenzierung

„Kollektive Großformen interdisziplinärer Forschung: Das Exzellenzcluster TOPOI“
Prof. Dr. Gerd Graßhoff, Geschichte und Philosophie der Wissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin und Prof. Dr. Michael Meyer, Prähistorische Archäologie, Freie Universität Berlin

„Interdisziplinäre Konzentration von kleinen Fächern in Zentren“
Prof. Dr. Katharina Krause, Präsidentin der Philipps-Universität Marburg

„Internationale Entdifferenzierungstendenzen: Die Area Studies“
Prof. Dr. Anne Kwaschik, Wissensgeschichte, Universität Konstanz

„Fallbeispiel Geschichte: Anmerkungen zu den Dynamiken in einem ‚großen Fach‘“
Prof. Dr. Jürgen Osterhammel, Neuere und Neueste Geschichte, Freiburg Institute for Advanced Studies

Abschlussdiskussion

Moderation: Dr. Wilhelm Krull, Generalsekretär der VolkswagenStiftung, Hannover

Wie lässt sich die aktuelle Strukturierung wissenschaftlichen Wissens beschreiben? - Zum praktischen Umgang mit Differenzierungs- und Entdifferenzierungsdynamiken im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem

Prof. Dr. Peter-André Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz
Prof. Dr. Eva Schlotheuber, Vorsitzende des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Prof. Dr. Uwe Schmidt, Leiter der Arbeitsstelle Kleine Fächer, Johannes Gutenberg-Universität Mainz