Die Baltistik ist eine der Mind-Wissenschaften und gliedert sich in die Teildisziplinen der baltistischen Literatur- und Sprachwissenschaft. Da die Philologien entlang der historischen Sprachfamilien entstanden sind, sind das Forschungs- und Lehrmetier der Baltistik die baltischen Sprachen und Literaturen. Zu den baltischen Sprachen werden Lettisch, Litauisch und Altpreußisch gezählt. Da „das Baltikum“ in Deutschland aber als Einheit gesehen wird, ist die Baltistik auch eine Wissenschaft von allen im Baltikum lebenden Menschen, ihren vielfältigen Sprachen und Subkulturen sowie ihrer Geschichte und sozialen und kulturellen Verflechtung mit den Nachbarregionen. Das sei aber nicht allein mit Blick auf das Estnische und die Esten gesagt, sondern vor allem mit Blick auf die multikulturellen Gesellschaften Lettlands und Litauens, in denen Russen, Belorußen, Ukrainer und Polen die hauptsächlichen Minderheiten stellen. Bis zum Ersten Weltkrieg gab es außerdem eine deutschsprachige Oberschicht im Baltikum, sodass dieser Teil der Geschichte der baltischen Staaten ebenfalls Inhalt baltistischer Forschungen ist.
Lettisch und Litauisch werden natürlich vor allem in Lettland und Litauen gesprochen; hinzu kommen noch Communities von Expats, die hauptsächlich in Schweden, Großbritannien, Irland, den USA, Kanada, Australien und Deutschland liegen. Altpreußisch ist eine ausgestorbene baltische Sprache, die bis 1677 auf dem Gebiet des späteren Ostpreußen gesprochen wurde. Preußen hat seinen Namen von diesen „Ureinwohnern“ des Gebiets übernommen. Die Baltistik kann im deutschsprachigen Raum auf eine 300-jährige Tradition zurückschauen. 1718 wurde an der Universität Königsberg ein „Litthauisches Seminar“ eingerichtet. Evangelische Pfarrer sollten dort sprachlich auf ihre Gemeindearbeit in Ostpreußen, wo damals eine große Zahl Litauer lebte, vorbereitet werden. Fast zeitgleich mit Königsberg wurde auch in Halle ein „Litthauisches Seminar“ gegründet. Es war eng mit dem dortigen Pietismus verknüpft, der auch auf dem Gebiet der späteren Staaten Lettland und Estland stark wirkte.
Im 19. Jahrhundert studierten europaweit Indogermanisten die baltischen Sprachen, die sie für besonders altertümlich hielten. Das sprachhistorische, indoeuropäische Interesse bildete eine intellektuelle Klammer und garantierte lange Zeit einen Platz in der akademischen Welt. Nachdem zu Beginn des 20. Jahrhunderts die baltischen Staaten entstanden waren, diversifizierte sich die Baltistik jedoch in Estonistik, Lettonistik und Lituanistik. Damit einher ging auch der Aufbruch zu anderen als sprachhistorischen Themen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden in Deutschland mehrere akademische Zentren der Baltistik: in München, Berlin, Bonn, Halle und Münster. Durch den Verlust der Souveränität der baltischen Staaten kam diesen Zentren eine besondere, kulturtradierende Bedeutung zu. Nach 1990 änderte sich das. Das Greifswalder Institut für Baltistik wurde 1993 gegründet. Das Portfolio des Instituts umfasst ein breites Spektrum: Sprachkurse für Lettisch und Litauisch, literarisches Übersetzen, kulturelle Veranstaltungen, Texteditionen, sozialempirische Erhebungen, Sprachpolitik und Grammatik, Metaphernforschung, Narratologie und klassische Literaturanalysen. Unser Schwerpunkt liegt auf Narratologie und Soziolinguistik.
Außer der Baltistik in Greifswald wurden die anderen, vorgenannten baltistischen Zentren in Deutschland nach 1990 geschlossen. Baltistische Forschung und Lehre etablierte sich jedoch nach 2010 neuerlich an den Universitäten von Berlin (HU) und Frankfurt/M.; die Baltistik ist dort ein Bereich der Historisch-vergleichenden bzw. Empirischen Sprachwissenschaft. Außerhalb Deutschlands und des Baltikums ist die Baltistik universitär in Schweden, Polen, Tschechien, Tasmanien und den USA verankert.
Die Greifswalder Baltistik ist ein eigenes Institut der Philosophischen Fakultät, was viele organisatorische Vorteile mit sich bringt. 2018 sind die meisten Institute der Fakultät (darunter auch unseres) in ein rundumerneuertes historisches Gebäude gezogen, was zu phänomenal guten Arbeitsbedingungen geführt hat. Dementgegen stehen rigide Kürzungen des Landes am Universitätshaushalt in den Jahren 2008/09, 2015/16 und 2024/25 sowie eine latente Unterfinanzierung der Universität in den übrigen Jahren. Von beidem waren bzw. sind alle Fächer der Philosophischen Fakultät betroffen, auch unser Institut. Zum Beispiel wird die Sprachvermittlung des Lettischen und Litauischen nur noch durch Lehraufträge abgedeckt (vormals waren es feste Stellen), was zu prekären Beschäftigungsverhältnissen führen würde, wenn nicht zur Zeit der litauische Staat unsere Litauischlektorin co-finanzieren würde und wenn die Lettischkurse nicht als Blockveranstaltung laufen könnten, sodass die Lettischlektorin das restliche Jahr als erfolgreiche Übersetzerin arbeiten kann. Es dürfte leicht zu verstehen sein, dass das zwar praktikable Lösungen sind, dass sie aber nicht nur die Möglichkeiten der Lehr- und Forschungspraxis einschränken, sondern auch enorm den Kreis der Lehrkräfte, die es sich erlauben können, sich auf solche Beschäftigungskonstruktionen einzulassen. Die Politik scheint aber in wirtschaftsneoliberaler Verblendung zu glauben, dass eine Universität gerade so auf ein europaweites, williges und unerschöpfliches Arbeitskräftereservoire zurückgreifen kann, wie es vielleicht eine Fliesenlegerfirma kann. Für die großen Fächer mag das auch zutreffen.
Durch den Wegfall von Stellen uniweit verlagern sich zudem immer mehr Verwaltungs-, Service- und Koordinierungsaufgaben in die Institute und damit auf das wissenschaftliche und Lehrpersonal. Dessen Arbeit wird dadurch weniger attraktiv, da für die „kreativen“ Aufgaben (Forschung, Projektentwicklung, Weiterentwicklung des Unterrichts, Third Mission) immer weniger Zeit bleibt. Die Universität erwartet zudem, dass auslaufende Stellen durch Drittmittelprojekte oder andere externe Förderung ersetzt werden. Abgesehen davon, dass eine externe Förderung erfolgreich einzuwerben kein planungssicheres Vorgehen ist, sind solche Stellen auch wieder nur befristet und dürfen außerdem sog. Daueraufgaben in der Regel nicht erledigen.
Zusammen mit der unsäglichen Befristungsgesetzgebung ist es mehr oder weniger unmöglich geworden, qualifizierten Nachwuchs heranzubilden oder zu halten oder irgendeine Art von konsequenter, langfristiger Forschung zu betreiben. Forschung aus „institutseigenen Kräften“ zu betreiben, ist wegen des Wegfalls fast aller Mittelbaustellen sowieso längst ein illusorischer Wunsch. Das alles hat direkten Einfluss auf Themen, Art und Umfang der Forschung. Wird die Forschung zudem extern gefördert, spricht in der Regel der Geldgeber eine deutliches Wörtchen mit, weil er die Themen, die Form oder die Bedingungen der Förderung festlegt. Das Gesagte trifft natürlich alle Fächer. Eine Besonderheit eines Mikrofaches, wie es die Baltistik ist, dürfte in diesem Zusammenhang hingegen sein, dass man bei allen Vorhaben und Projekten zur Interdisziplinarität verdammt ist, da man in den Entscheidungsgremien „fachfremde“ Fürsprecher braucht. Diese Fürsprecher sind die großen Fächer, die in den Gremien (übrigens auch in denen, die über Kürzungen entscheiden) die Mehrheiten halten bzw. überhaupt Gremien mit ihren Leuten besetzen können. Hatte ich schon erwähnt, dass wir Baltisten selbst bei Habilitations- und Promotionsverfahren auf die großen Fächer angewiesen sind, wohingegen diese es sich erlauben können, das alles unter sich auszumachen?
Das Lehrumfeld an unserer Fakultät ist (noch) gut. Die Greifswalder Baltistik managed einen eigenen Bachelor-Studiengang und ist an zwei fachübergreifenden Masterstudiengängen beteiligt, die gut nachgefragt werden. Der M.A. „Sprachliche Vielfalt“ wird aus einem curricularen Zusammenschluss aller linguistischen Lehrstühle unserer Fakultät gespeist und „History and Culture of the Baltic Sea Region“ ist ein englischsprachiger, historisch-kulturwissenschaftlicher Studiengang.
Die Mind-Fächer vermittelten seit Humboldt einen „Bildungskanon“ und bauten auf einem intrinsischen Interesse an anderen Kulturen und Sprachen auf, die für sie einen Wert an sich haben. Das ist Geschichte. Beginnend mit der „Lissabon Strategie“ der EU im Jahre 2000 sind (auch) Universitäten keine Bildungseinrichtungen mehr, sondern Ausbildungseinrichtungen. Die Öffentlichkeit und die Studierenden folgen dieser wirtschaftsutilitaristischen Auffassung inzwischen vollkommen; „sinnvolle“ Disziplinen sind nur die, mit denen man Geld verdienen kann. Literatur- und Sprachwissenschaften stehen hier im Verdacht, sinnloses Wissen zu vermitteln. Der Beweis dafür soll oft die Tatsache sein, dass es kein klares Berufsbild für unser Fach gebe. Das stimmt insofern, als die Baltistik keine Lehramtsausbildung kennt.
Einer der erklärten Forschungsschwerpunkte der Universität Greifswald sind seit langem die Kulturen des Ostseeraums. Hieraus haben sich fruchtbare Vernetzungen ergeben: Unter den Fächern unserer Fakultät (für die Baltistik in erster Linie mit der Fennistik) und mit anderen, ausländischen Einrichtungen im Ostseeraum (z.B. mit Tartu, Tampere und Trondheim). Dem Forschungsschwerpunkt wurde institutionell dadurch Rechnung getragen, dass 2019 das Internationale Zentrum für Ostseeraumforschung (IFZO) gegründet wurde. Hierin ist auch die Baltistik vertreten (zur Zeit mit einem Kooperationsprojekt zu Lettland und Estland), und es steht zu erwarten, dass sich die uniinterne Zusammenarbeit durch das fakultätsübergreifende IFZO verstärken wird (z.B. wären für die Baltistik Projekte mit der Geografie denkbar). Die Baltistik ist auch in das interdisziplinäre und internationale DFG-Graduiertenkolleg „Baltic Peripeties“ (GRK 2560) involviert.
Diese Entwicklung ist für die Greifswalder Baltistik wichtig und richtig. Internationalität und Interdisziplinarität führen im Zusammenhang mit unserer gegenwartsbezogenen, sozialwissenschaftlichen Ausrichtung zu unserer guten Einbettung in Strukturen, aber leider auch dazu, dass unsere Forschung und Lehre weniger fachspezifische und traditionelle baltistische Themen berücksichtigt. Damit sind wir bis zu einem gewissen Grad zu den übrigen baltistischen Zentren inkompatibel geworden; auch zu denen in Lettland und Litauen selbst, da dort die traditionelleren Themen besonders wertgeschätzt werden.
Das kommt darauf an, was genau gemeint ist. Wenn privatwirtschaftliche Institute gemeint sind, dann ist die Antwort: Haben keine Bedeutung. Wenn sogenannte An-Institute oder Einrichtungen von Forschungsgesellschaften (wie z.B. der Max-Planck-Gesellschaft) gemeint sind, dann wäre eine Ansiedlung der Baltistik an einer solchen Einrichtung sicherlich ein großer Gewinn für beide Seiten. Allerdings hat man die Entscheidung darüber ja nicht selbst in der Hand. Falls es sich anders verhält, möge sich ein Max-Planck-Institut umgehend bei mir melden!
Die Zukunft unseres Faches sehe ich im deutschsprachigen Raum finster. Vordringlichstes Problem ist es, wissenschaftlichen Nachwuchs zu generieren, der die beiden Amtsinhaberinnen und den Amtsinhaber dereinst wird beerben können. Zudem lassen weitere Sparwellen, zu denen die Universitäten gezwungen werden, befürchten, dass auch von den Fächern, die bereits auf Mikromillimetergröße zusammengespart wurden, weitere Einsparungen erwartet werden.
Was würde helfen? Die drei winzigen Zentren der Baltistik in Deutschland, deren Dislozierung einst aus heute unwichtigen Gründen entstanden ist, sollten an einem attraktiven Standort zusammengelegt und unabhängig von einem bestimmten Landesfinanzregime auskömmlich finanziert werden, um das Fach in Lehre und Forschung in seiner ganzen Breite und Bedeutung aufrechterhalten zu können. Aus sozialempirischen Untersuchungen wissen wir, dass Studienanfänger ihre Universität nach der Attraktivität der Stadt auswählen, in der sie steht. Greifswald ist hier nicht die erste Adresse und zudem schwer zu erreichen. Ein Standort in einer Großstadt in der Mitte Deutschlands (z.B. in Göttingen) wäre vorteilhafter.
Stephan Kessler ist seit dem Jahr 2001 an der Universität Greifwald tätig, wo er 2008 auf den Lehrstuhl für Baltistik berufen wurde. Weitere Stationen seiner akademischen Laufbahn waren die Universitäten Konstanz und Münster sowie die Universität von Lettland in Riga. Zu Professor Kesslers Forschungsschwerpunkten zählen die lettische Literatur des 20. Jahrhunderts, die litauische Literatur des 19. Jahrhunderts, die baltisch-slawischen Literaturbeziehungen, Metapherntheorien, Narratologie, Pragmatik und Soziolinguistik. Weitere Informationen