World airline routes ((c) Josullivan.59)
Das Fach „Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft (AVL)” beschäftigt sich mit dem Vergleich von Literatur aus verschiedenen Kulturen, Epochen und Gattungen. Der Begriff „Komparatistik” wird weitgehend synonym verwendet, legt aber einen noch stärkeren Schwerpunkt auf den Vergleich als allgemeine epistemologische Praxis, vor dem der Fokus auf Literatur in den Hintergrund geraten kann. Die Geschichte des Fachs in Deutschland reicht bis in das 19. Jahrhundert zurück, in dem es – in etwa zeitgleich mit den „Nationalphilologien“ (hier also Germanistik) – vor allem im Sinne einer vergleichenden Literaturgeschichte entstand. Während in den Anfängen Einflussforschung und Gattungsgeschichte im Vordergrund standen, hat das Fach im 20. Jahrhundert mehrere Ausweitungen erfahren. So zählen beispielsweise auch die allgemeine Literatur- und Kulturtheorie, die Ästhetik und der Vergleich von Literatur mit anderen Medien zu den Forschungsgebieten der AVL.
Schon früh wurde der grenzüberschreitende Anspruch der AVL über den von J.W. Goethe lancierten Begriff „Weltliteratur“ bestimmt. Entsprechend gehört auch die Frage, wie der Begriff historisch verstanden wurde und wie er im Zeitalter beschleunigter Globalisierung zu denken ist, zu den prominentesten Debatten im Rahmen der AVL. In der ursprünglichen Konzeption von Goethe war „Weltliteratur“ als Dialog zwischen den Nationalliteraturen gedacht, wobei sowohl Rezeption (des kulturell Fremden) als auch Widerspiegelung (des Eigenen in der Rezeption durch Andere) im Vordergrund standen. Heute wird die eurozentrische Orientierung des Begriffs problematisiert, aber die Frage bleibt virulent, ob und wie Literatur aus verschiedenen Kulturen und Sprachen auf eine universelle Ebene gehoben werden kann, ohne ihre spezifischen Kontexte zu verlieren.
Die Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes blickt auf eine mittlerweile über 70jährige Geschichte zurück. Es handelt sich um die zweitälteste Komparatistik in Deutschland; ihre Gründung war 1951 eine französische Initiative mit dem ausdrücklichen Ziel der Völkerverständigung. In diesem Sinne wirkt das Fach dezidiert am Europaschwerpunkt der Universität des Saarlandes mit, der sich unter anderem aus der geographischen Lage im Dreiländereck von Deutschland, Frankreich und Luxemburg ergibt, und profitiert von seinem multikulturellen und mehrsprachigen Umfeld. Zahlreiche Kooperationen in der Großregion erleichtern den Austausch mit anderen Forschungseinrichtungen und bieten den Studierenden Zugang zu einem breiten Spektrum an Ressourcen.
Die Offenheit und Anschlussfähigkeit der Komparatistik für aktuelle übergreifende Fragestellungen zeigt sich nicht zuletzt in der Einwerbung des Käte-Hamburger-Kollegs für Kulturelle Praktiken der Reparation, die kürzlich in Zusammenarbeit mit der Romanistik beim BMBF gelang. Ziel dieser Forschungseinrichtung ist es, eine transmediale Theorie kultureller Reparationspraktiken und -prozesse zu erarbeiten. In historischer und transkultureller Perspektive soll ein gesellschaftspolitisches Verständnis für kulturelle Reparationsphänomene entstehen. So will das Kolleg Wissen über mögliche Formen des Zusammenlebens in einer globalisierten Welt hervorbringen. Zugleich soll damit ein Beitrag zur Neuausrichtung der Kulturwissenschaften geleistet werden. Im Fokus der Forschung, an der sich jährlich bis zu 12 Fellows aus der gesamten Welt beteiligen, stehen Erinnerungskulturen und geschichtspolitische Diskurse, individuelle Erfahrungen von Verlust und Beschädigung sowie kulturökologische Fragen.
Der interdisziplinäre Dialog prägt auch die Lehrtätigkeit im Fach Komparatistik. Das Lehrangebot des Lehrstuhls für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft trägt sowohl fachspezifische als auch interdisziplinäre Studiengänge wie etwa „Historisch orientierte Kulturwissenschaften” mit. Komparatistische Arbeitsweisen sind somit Teil übergreifender Erkenntnismethoden, worin sich auch die Relevanz des Fachs im Fächerverbund der Philosophischen Fakultät zeigt.
Das Fach leistet durch seine interdisziplinären und interkulturellen Ansätze relevante Beiträge zu aktuellen gesellschaftlichen Diskursen. Ein Beispiel dafür wäre die bereits angesprochene Debatte um den Begriff „Weltliteratur”. Mit ihm hängt nicht nur die Frage zusammen, ob und wie sich übergreifende, globale Konzepte von Literatur vertreten lassen, ohne einem hegemonialen Universalismus das Wort zu reden. Im Rahmen von „Weltliteratur“ wird darüber hinaus diskutiert, wie sich in und mit Literatur das Verhältnis zur Welt neu denken lässt: Wie bearbeitet Literatur aktuelle Krisen und Probleme? Kann Literatur uns etwa einen Begriff davon vermitteln, was „Welt“ ist? Kann sie uns ein globales Denken ermöglichen und globale Prozesse wie den Klimawandel, die in ihrer Komplexität und Reichweite die individuelle Vorstellungskraft übersteigen, anschaulich machen?
Während die Relevanz der genannten Fragen kaum in Zweifel gezogen werden dürfte, werden sie wohl ebenso wenig als genuin komparatistisch wahrgenommen. Gerade die Anschlussfähigkeit und konzeptuelle Offenheit des Fachs kann so einer adäquaten Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und innerhalb des Hochschulsystems entgegenwirken. Denn eine Disziplin, die sich zu einem großen Teil über die Methode des Vergleichens definiert, profiliert sich wenig gegenüber anderen geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen, die – zumindest heutzutage – ebenfalls vergleichend und häufig auch grenzüberschreitend verfahren. So besteht etwa an der Universität Bielefeld ein Sonderforschungsbereich „Praktiken des Vergleichens” (SFB 1288), der die komparatistische Methodenfrage – was ist Vergleichen und wie wird es in akademischen und lebensweltlichen Kontexten vollzogen – in einem übergreifenden Fächerverbund bearbeitet, an dem die Komparatistik als Disziplin nur einen geringen Anteil hat. Demgegenüber sollte man sehen, dass gerade die Nationalphilologien heute Schwierigkeiten hätten, ihre Relevanz deutlich zu machen, wenn sie nicht ebenfalls vergleichend verfahren würden.
Die AVL ist per se interdisziplinär und an deutschen Universitäten oft Teil eines „nationalphilologisch” orientierten Instituts wie der Germanistik. Dort, wo sie schwerpunktmäßig als Literaturwissenschaft betrieben wird, drängen sich Kontakte zu weiteren Literatur- und Kulturwissenschaften auf. Eine Herausforderung besteht dabei darin, dass komparatistische Arbeiten, die durchaus Schwerpunkte in Einzelphilologien ausbilden können, in letzteren auch als gleichberechtigte Forschungsbeiträge wahrgenommen werden. Oft werden Komparatist:innen als Generalist:innen gesehen und müssen gegen das Vorurteil ankämpfen, einzelphilologische Fragen nicht in ausreichender Tiefe beantworten zu können. Die grenzüberschreitende komparatistische Perspektive erschwert mithin häufig eine angemessene Rezeption in Einzeldisziplinen, insbesondere wenn die Autor:innen dort nicht zusätzlich institutionell verankert sind. Mir ist dagegen wichtig, dass Gründlichkeit, gedankliche Tiefe und Präzision in Einzelfragen keineswegs im Widerspruch zu vergleichenden Perspektiven oder übergreifenden Fragestellungen stehen. Diese Erkenntnis sollte sich in den Literatur- und Kulturwissenschaften besser durchsetzen.
Darüber hinaus lebt die Komparatistik aber auch von Kontakten mit anderen Disziplinen, denn ihre Fragestellungen ergeben sich häufig aus grenzüberschreitenden Problematiken. Für meine Qualifikationsschriften waren etwa Kontakte zu den Rechts- und Religionswissenschaften von Bedeutung, die ich in interdisziplinären Kolloquien, Tagungen und Forschungseinrichtungen ausgebaut habe. Heute interessiere ich mich besonders für Schnittpunkte zwischen Literatur- und Medienwissenschaft im Bereich der Digitalisierung und untersuche, wie sich die Wissenspraxis des Spurenlesens, die im 19. Jahrhundert durch die Detektivgeschichte und den Indizienbeweis neuerlich prominent wurde, in heutigen „Online Open Source Investigations” fortsetzt.
Mir sind keine explizit und ausschließlich komparatistischen Forschungsinstitute bekannt, die nicht an Universitäten angesiedelt wären. Komparatistische Fragestellungen werden jedoch an vielen Institutionen verfolgt, die sich allgemein literatur- und kulturwissenschaftlichen Themen widmen (Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin; Kulturwissenschaftliches Institut, Essen). Komparatistische Forschung wird ebenfalls von Archiven wie dem Deutschen Literaturarchiv Marbach gefördert. In den Bereich der Allgemeinen Literaturwissenschaft fallen darüber hinaus auch Fragestellungen, wie sie vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik betrieben werden.
Mit ihrer Neugier, über den eigenen nationalen und disziplinären Tellerrand zu schauen, ist die AVL ein in jeder Hinsicht zeitgemäßes Fach. Dies gilt zum einen in inhaltlicher Hinsicht, wenn z.B. darum geht, literarische Zusammenhänge der Globalisierung, der Transkulturalität oder der Digitalisierung kritisch zu reflektieren. Der grenzüberschreitende Charakter der Komparatistik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten aber auch institutionell als maßgeblich erwiesen, weil auch die übrigen Literatur- und Kulturwissenschaften zunehmend vergleichend und transdisziplinär arbeiten. Das muss man zunächst natürlich als einen Erfolg der komparatistischen Perspektive begrüßen. Stellenpolitisch wirkt sich diese Entwicklung jedoch eher negativ für die Komparatistik aus: Komparatistische Forschungsansätze werden wie selbstverständlich in die Denominationen ursprünglich nationalphilologischer Lehrstühle integriert, so dass Ausschreibungen für „Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit komparatistischem Schwerpunkt” oder „Romanistik/Komparatistik” üblich werden. Die allgemeine Akzeptanz komparatistischer Denk- und Arbeitsweisen führt also gerade nicht zu einer Zunahme dezidiert komparatistischer Stellen und einer Stärkung des Fachs, sondern eher zu einer Integration der Disziplin in einen literatur- und kulturwissenschaftlichen Fächerverbund ohne klares eigenes Profil. Diese Entwicklung wird in der Lehre von der Tendenz begleitet, Studiengänge nicht mehr an einzelne Philologien zu binden, sondern übergreifenden Denominationen wie bspw. „Europäische Literaturen und Medien“ zu unterstellen. Angesichts dessen wäre es wünschenswert, die konstitutive Bedeutung der Komparatistik für solche Studiengänge auch nominell herauszustellen und gleichzeitig das eigenständige Profil des Fachs zu stärken.
Joachim Harst hat seit April 2024 die Vertretung des Lehrstuhls für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes inne. Zu den vorherigen Stationen seiner akademischen Laufbahn zählen die Yale University sowie die Universitäten Bonn und Köln. Schwerpunkte von Joachim Harsts Forschungsaktivitäten sind virtuelle Investigationen und Indizienparadigma, Psychoanalyse in Literatur und Film, Verbindlichkeit in Recht, Religion und Literatur, Theologie und Theater sowie Begriff, Geschichte und Praxis der Philologie. Seit dem Jahr 2011 fungiert Joachim Harst als Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Weitere Informationen